zum Hauptinhalt
 „Gebt der Schule den Vorrang, den sie verdient“, heißt es auf einem Protestplakat in Brescia in der Lombardei 2021

© Imago/Luca Ponti

Familiensoziologin zu Italiens Plänen: „Will die Regierung Meloni wirklich mehr Kinder?“

Italien brauche mehr Kinder, nicht mehr Migration, meint die Rechtsregierung in Rom. Dass daran fast alles falsch ist, erklärt Italiens renommierteste Familiensoziologin und Armutsforscherin.

Ein Gastbeitrag von Chiara Saraceno

Es ist gleich in mehrfacher Hinsicht Unsinn, Migration und Geburtenrate gegeneinander auszuspielen. Die eine kann die andere nicht ersetzen. Die Geburtenrate in Italien sinkt nun schon seit Generationen. Um das auszugleichen, brauchten wir viel mehr Migration als aktuell – damit verbunden wären Investitionen in Integration.

Andererseits ist die italienische Bevölkerung im reproduktionsfähigen Alter inzwischen derart geschrumpft, dass sie den Verlust von Jahrzehnten nicht ausgleichen würde, selbst wenn jede und jeder von ihnen plötzlich drei Kinder bekäme. Das Problem der wenigen Geburten in Italien ist nicht mehr in erster Linie eins der Kinderzahl pro Frau – den Niedrigststand hatten wir 1996 mit statistisch etwa 1,2 Kindern –, sondern dass es nur noch wenige Frauen im entsprechenden Alter gibt.

Da würde Migration allerdings helfen, ganz einfach, weil Menschen, die auswandern, üblicherweise jung sind. Mit ihnen wächst der Teil der Bevölkerung, die Kinder bekommen kann. Bei uns schrumpft er. Auch die nicht wenigen Italienerinnen und Italiener, die ihr Land verlassen, sind vor allem junge Leute.

Aber natürlich ließe es sich etwas tun, um die Geburtenzahl zu steigern. Kinder werden nicht fürs Vaterland gezeugt und auch nicht dafür, dass jemand den Sozialstaat bezahlt. Da sie zum Glück inzwischen eine freie Entscheidung ihrer Eltern sind, sollten wir auf all die Hürden schauen, die es Männern und vor allem Frauen schwer machen, sich für Kinder zu entscheiden. Es geht hier schließlich nicht nur um neun Monate bis zur Geburt.  

Eltern brauchen ein auskömmliches Einkommen, Frauen wenigstens die Aussicht, den Arbeitsplatz trotz Kindern zu behalten.

Chiara Saraceno

Eltern brauchen eine gewisse Sicherheit, etwa ein auskömmliches Einkommen oder auch, im Fall der Frauen, wenigstens die Aussicht, den Arbeitsplatz trotz Kindern zu behalten. Wer Kinder bekommt, braucht auch die Hoffnung, dass sie später eine gute Schulbildung und anschließend Lebensperspektiven haben.

Für all das sieht es in Italien nicht gut aus: Seit Ende der 1990er Jahre haben zu viele Unternehmen auf niedrige Löhne, Standortverlagerungen und die Privatisierung von Arbeitsverträgen gesetzt, statt auf Forschung und Investitionen in Humankapital. Darunter leiden vor allem jungen Leute und, unabhängig von ihrem Alter, Frauen. 70 Prozent derer, die komplett  aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, sind Frauen, die als Grund dafür Familienarbeit angeben.

Ein Viertel der Mütter gibt die Arbeit auf

Sie müssen Kinder oder Alte versorgen. Sie kündigen nicht, weil sie wollen, sondern weil sie nicht mehr arbeiten können. 20 bis 25 Prozent der berufstätigen Italienerinnen geben Jahr für Jahr die Berufstätigkeit auf, weil sie Kinder bekommen.  Sie arbeiten nicht mehr, obwohl sie es eigentlich müssten und wollten. Ihnen hilft man nicht mit Steuererleicherungen, wie sie jetzt wieder geplant sind. Und auch nicht mit der Weisheit, die Frauen müssten es eben wollen, dann hätten sie eine Arbeitsstelle.

So ein hoher Prozentsatz verweist auf ein strukturelles Problem, kein individuelles. Es hat mit Arbeitsorganisation zu tun und einer Unternehmenskultur, die viel zu oft Muttersein für ein Handicap und Problem hält. Deshalb halten viele Arbeitgeber oder Personalverantwortliche Mütter davon ab, weiter zu arbeiten. Entweder zwingt man ihnen schwierige Arbeitszeiten auf, man degradiert sie oder zahlt ihnen eine Abfindung.

Das geschieht auf allen Qualifikationsniveaus. Aber es hat auch zu tun damit, dass eine Politik zugunsten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie fehlt. Und das trifft vor allem die Frauen im Süden Italiens und die besonders geringqualifizierten, die nicht die Mittel haben, auf dem privaten Markt Kinderbetreuung zu bekommen, die als öffentliche Dienstleistung fehlt.  

Italien vertreibt seine Hochqualifizierten

Womit wir bei einem weiteren strukturellen Problem wären: Italien ist ein Land mit einer hohen Schulabbrecherquote, einer der höchsten unter den Industrieländern. Das hat damit zu tun, dass anders als zum Beispiel in Deutschland für viele Berufe, wenn sie nicht hochspezialisiert sind,  keine formale Qualifikation nötig ist.

Menschen in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen und mit einer holprigen Schullaufbahn sind dadurch noch weniger motiviert, eine Ausbildung zu machen. Viele dieser frühen Schulabbrecher vergrößern später das Heer derer, die weder in Arbeit, Ausbildung noch Schule sind, auch darunter viele Frauen, die ohnedies oft schon durch Familienpflichten gebunden sind.

Wir beklagen uns über den Kindermangel, aber wir investieren nicht in Kinder.

Chiara Saraceno

Gleichzeitig können wir die viel zu wenigen Hochqualifizierten nicht im Land halten, vor allem in den technischen Berufen. Angesichts der Gehälter, Karriereaussichten und sozialen Sicherheit hierzulande ziehen eine Bauingenieurin oder ein IT-Techniker lieber nach Deutschland, die Schweiz, auch nach Spanien.

Wir beklagen uns über den Kindermangel, aber dann investieren wir weder in Kinder noch halten wie sie im Land, wenn sie gutausgebildete Erwachsene sind. Die meisten Unternehmen, darunter viele kleine, setzen seit langem eher auf niedrige Löhne als auf Innovation.

Meloni hat recht in der Frauenfrage, tut aber nichts

Wäre dies nicht so, hätten wir auch eine andere Art Migration. Andere Länder bemühen sich aktiv um Fachkräfte. Wir glauben nach wie vor, Migration sei nur etwas für die Saisonarbeit auf den Tomatenfeldern und die private Altenpflege.

Wollen wir wirklich mehr Kinder? Meloni hatte Recht, als sie sagte, dass der Weg dahin über mehr Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen führe. Aber ich sehe nicht, dass ihre Regierung dafür irgendetwas täte. Sie investiert weder in die Kinder- und Altenbetreuung noch in Schulen. Sie will auch keinen gesetzlichen Mindestlohn festlegen und ist gegen ordentliche Arbeitsverträge statt prekärer Beschäftigung.

Sie will, dass mehr Kinder geboren werden, verhält sich aber feindselig den vielen Kindern gegenüber, die bereits da sind, vor allem, wenn sie ausländische Eltern haben. Ihnen verweigert man die Staatsbürgerschaft vor dem 18. Lebensjahr, obwohl sie hier leben und zur Schule gehen.

Man behindert also ihre vollständige Integration. Auch den Kindern gleichgeschlechtlicher Paare wird die Eintragung beider Eltern verweigert, selbst dann, wenn sie in einem Land geboren sind, in dem sie darauf ein Recht haben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false