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Die indische Eisenbahn ist einer der größten Arbeitgeber des Landes.

© AFP/PUNIT PARANJPE

China überholt: Warum Indien bald bevölkerungsreichstes Land ist

Nirgendwo auf der Welt leben schon bald mehr Menschen als zwischen Kerala und Kaschmir. Während Indien das nutzen will, sagt China: „Es kommt nicht auf die Größe an.“

Jeder Dritte der rund acht Milliarden Menschen der Welt kommt aus China oder Indien. Dort leben je rund 1,4 Milliarden. Und lange war China die Nummer eins mit der größten Bevölkerung der Welt.

Nun soll Indien nach Schätzungen des UN-Bevölkerungsfonds UNFPA in der Mitte des Jahres China überholen, wie aus Daten des jüngst veröffentlichten Weltbevölkerungsberichts der Organisation hervorgeht. In Indien sollen dann demnach 1,4286 Milliarden Menschen leben, in China 1,4257.

Da die Geburtenrate bei 2,01 Kindern pro Frau liegt, wird prognostiziert, dass der Trend bis etwa 2060 so weiter geht.

Als Indien 1947 vom Vereinigten Königreich in die Unabhängigkeit entlassen wurde, zählte es unter dem scheidenen Vizekönig Louis Mountbatten lediglich 350 Millionen Einwohner. Kinderreichtum galt als Segen – sofern genug männliche Nachkommen dabei waren, die für ihre Eltern sorgen sollten. Das hat sich inzwischen gewandelt.

China: „Es kommt nicht auf die Größe an“

China reagierte auf die UN-Schätzungen reserviert: Es komme auf die Beschaffenheit der Bevölkerung an, wird ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums von Chinas Medien zitiert: „Nicht auf die Größe.“ Indien werde die Volksrepublik keinesfalls wirtschaftlich überholen, schrieb die englischsprachige Propagandazeitung „Global Times“.

Trotzdem kämpft Partei- und Staatschef Xi Jinping mit einer immer älter werdenen Bevölkerung: Die Volksrepublik hatte laut ihrem Statistikamt Ende des Jahres nur noch 1,411 Milliarden Einwohner und damit rund 850 000 weniger als ein Jahr zuvor. Auf den Überschuss an Werktätigen, der Chinas Wirtschaftswunder als „Werkbank der Welt“ angekurbelt hatte, werde Arbeitskräftemangel folgen, warnen Experten.

Indien hat derzeit noch deutlich mehr junge als alte Menschen, mehr potenziell Werktätige, die die Wirtschaft voranbringen könnten. Indische Politiker haben diese Tatsache immer wieder als „Demografische Dividende“ bezeichnet, als Booster für die Wirtschaft und als Chance, die Lebensumstände von Millionen zu verbessern. Aber noch gibt es für die vielen Menschen zu wenige Jobs – und die Schaffung von neuen ist eine der größten Herausforderung für die Regierung von Premierminister Narendra Modi.

Armut im Norden, Überalterung im Süden

Doch wo genau wächst die indische Bevölkerung? Auch das ist, wie der Wohlstand im Land, ungleich verteilt. Größte Zuwächse gibt es im Norden, im ärmeren Teil des Landes. Der Reserve Bank of India zufolge sind vor allem die Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh betroffen. Dort wächst die Bevölkerung mit einer Rate von 17 Prozent, die Industrie hingegen nur mit einer Rate von neun Prozent. Das ist ein Problem für alle, die nach der Schule einen Arbeitsplatz suchen.

Obwohl das Durchschnittsalter in Indien bei 27,6 Jahren liegt, drohen die Bundesstaaten im Süden hingegen gar zu überaltern. Sie erwirtschaften ein höheres Bruttoinlandsprodukt als die nördlichen Nachbarn, sind aber nicht so stark vom Jugendüberschuss betroffen. Einem „Auswandern“ in den jeweils anderen Landesteil stehen vor allem sprachliche Probleme entgegen: Im Süden spricht man kein Hindi, im Norden jedoch fast ausschließlich.

Staatliche Geburtenkontrolle?

Da der Norden eher muslimisch geprägt ist als der Süden, warnen religiöse Eiferer davor, dass diese Minderheit bald qua Geburt die Macht übernehmen könnte. Wie das Pew Research Institute schreibt, sinkt jedoch die Kluft bei der Nachkommenschaft zwischen allen Religionen. Gebar im Durchschnitt 1992 jede muslimische Frau in Indien noch 4,4 Kinder, sank diese Zahl bis 2015 auf 2,6. Bei den hinduistischen Frauen sank die Zahl der Nachkommen im gleichen Zeitraum von 3,3 auf 2,1.

Dass nun genau in Uttar Pradesh die Regierungspartei BJP Versuche unternommen hat, Geburtenkontrolle staatlich zu verordnen, macht viele im Land skeptisch. „Dieses Gerede von der Kontrolle der Bevölkerungsentwicklung ist nur dazu da, den Streit weiter am Laufen zu halten und Muslimen einen schlechten Ruf zu verschaffen, um Hass anzufachen und die Mehrheit der Hindu für sich zu gewinnen,“ sagte SY Quraishi, Autor des Buchs „The Population Myth“ und ehemaliger Beamter, dem „Guardian“.

15
Prozent aller Kinder in Indien sind dauerhaft unterernährt.

Sangmitra Singh sieht keine Notwendigkeit für weitere staatlich gelenkte Programme zur Geburtenkontrolle. „Es gibt zwei sehr gute Instrumente“, sagte die Forscherin bei der Population Foundation of India, dem Tagesspiegel. Das nationale Bevölkerungsprogramm aus dem Jahr 2000 („National Population Policy 2000“) hat das Ziel, die Zahl der Kinder pro Paar zu reduzieren. Teil davon ist auch der freiwillige Zugang zu Verhütungsmitteln für Frauen.

Unterstützen soll auch das Projekt „Mission Parivar Vikas“, aus dem Jahr 2017 und sich an Frauen wendet aus den 147 geburtenstärksten Bezirken. Diese werden dort über Verhütung aufklärt, welche Mittel es hierfür gibt und wie sie dazu Zugang erhalten. „Wir müssen uns vor allem auf die Frauen und Mädchen konzentrieren“, betont die Expertin Singh.

Noch heute hat das Land schlechte Erinnerungen an das völlig fehlgeleitete, unmenschliche Programm unter Indira Gandhi Mitte der 1970er-Jahre, das der sogenannten Bevölkerungsexplosion entgegenwirken sollte: Damals waren vor allem Männer aus ärmeren Gesellschaftsschichten zwangssterilisiert worden. Allein 1976 sollen es sechs Millionen gewesen sein.

Letzte Volkszählung war im Jahr 2011

Ein weiteres, großes Problem ist die Versorgungslage der Kinder im Land: Laut dem Global Hunger Index liegt Indien auf Rang 107 vom 121 erfassten Ländern. Fast 15 Prozent der Kinder gilt als dauerhaft unterernährt, bei weiteren 20 Prozent wird davon ausgegangen, dass sie es zumindest zeitweise sind. Immerhin sank die Kindersterblichkeit bei den unter Fünfjährigen von 9,2 Prozent im Jahr 2000 auf 3,3 Prozent 2022.

Wann genau Indien in diesem Jahr China ablöst, könne niemand sagen, hieß es von den Vereinten Nationen. Demnach fehlen schlicht die genauen Daten. In Indien beispielsweise stammen die Zahlen der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2011.

„Wir brauchen aber keine Angst zu haben“, sagt Sangmitra Singh. Sie sieht im Bevölkerungsreichtums Indiens eine Chance für die Welt. „Denn wo die überaltert, können Inder vielleicht helfen.“

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