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Allein 2022 wurden 36 Frauen auf Kuba ermordet.

© imago/Chris Cheadle

„Die Schweigespirale ist durchbrochen”: Mord an 17-Jähriger führt zu Feminismus-Debatte auf Kuba

Ein 50-jähriger Mann tötet eine junge Frau auf einer Polizeiwache. Feministinnen kritisieren Justiz und Polizei – diese reagierten viel zu langsam.

Leidy war 17 Jahre alt als sie starb. Es war ein Samstag im Januar; sie war mit Freunden auf einer Party in Nuevitas, einem kubanischen Ort im Landesinnern. Gegen Mitternacht, berichteten später lokale Journalisten unter Berufung auf Zeuginnen, habe ein älterer Mann sie bedrängt.

Es sei zu einer lauten Auseinandersetzung gekommen. Der Mann habe eine Machete ausgepackt; Leidy sei auf die nahegelegene Polizeistation geflohen. Dort holte der Mann sie ein, zerrte sie nach draußen und verletzte sie mit zwei Hieben so schwer, dass sie verstarb.

Später stellte sich heraus, dass der 50-Jährige vorbestraft war und drei Jahre lang ein Verhältnis mit der 17-Jährigen hatte – obwohl ihre Eltern ihn wegen Pädophilie angezeigt hatten. Der brutale Frauenmord auf der Polizeiwache führte auf Kuba zu großer Empörung und einer Debatte über Feminismus.

Solange der Staat keine direkten, erzieherischen, präventiven und realen Maßnahmen zu diesem Thema ergreift, wird er zum Komplizen.

Lisbeth Moya González, Soziologin

Allein in diesem Jahr wurden auf Kuba 16 Frauen ermordet, 2022 waren es 36. Das geht aus Daten der Frauenorganisation YoSíTeCreo hervor, die in Ermangelung offizieller Statistiken eigene Zahlen erhebt, zumeist mithilfe von Betroffenen oder Bürgerjournalist:innen sowie des feministischen Portals Alas Tensas.

Das Portal Alas Tensas zeigt an, wie viele Frauen im laufenden Jahr auf Kuba bereits ermordet wurden.

© AFP/Adalberto Roque

Die beiden Organisationen kommen auf 129 Frauenmorde seit 2019. Die tatsächliche Zahl dürfte den Kollektiven zufolge deutlich höher sein.

Bis vor einigen Jahren waren Frauenmorde auf der sozialistischen Insel kein Thema. Obwohl Machismo und sexueller Missbrauch in der ganzen Karibik ein enormes Problem sind, war Kuba laut Staatspropaganda davon ausgenommen. Gewalt, so die Lesart der Partei, war ein kapitalistischer Auswuchs, den der Sozialismus überwunden habe.

Morde wurden als Einzelfälle asozialer Individuen behandelt. So wurde eine Debatte über die dominante Rolle des Mannes in der Gesellschaft abgewürgt. Erst seit dem Jahr 2018, als nach und nach mobiles Internet auf der Insel verfügbar wurde, flossen die Informationen besser – und entsprechend wuchs der Druck.

Die Arbeit von unabhängigen, feministischen und LGBTQ-Kollektiven mündete schließlich 2022 in eine Reform des Familienrechts, das noch aus dem Jahre 1975 stammte und beispielsweise Kinderehen erlaubte.

129
Frauenmorde fanden in Kuba seit 2019 statt, die Dunkelziffer wird deutlich höher geschätzt.

In der Reform wurden nicht nur die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert, sondern auch härtere Strafen für Gewalt gegen Frauen verhängt. Unter anderem verlieren gewalttätige Partner nun das Sorgerecht für ihre Kinder oder das Recht, ihre verstorbenen Ehepartner zu beerben.

Der Staat ist blind für das strukturelle Problem

Für YoSiTeCreo ist das aber noch lange nicht ausreichend. „Wie der Fall Leidy gezeigt hat, brauchen wir dringend Krisenprotokolle und Präventionsmechanismen“, sagte eine Sprecherin, die anonym bleiben will. Denn Feministinnen werden von der Staatssicherheit observiert und schikaniert, da sie unter umstürzlerischem Generalverdacht stehen.

„Das ist keine Frage der Ideologie, die Opfer werden nicht getötet, weil sie Kommunisten sind, die Täter werden nicht von irgendeinem politischen Feind des Sozialismus bezahlt. Solange die Regierung die Zivilgesellschaft, die versucht, etwas dagegen zu tun, als Söldner behandelt, solange der Staat keine direkten, erzieherischen, präventiven und realen Maßnahmen zu diesem Thema ergreift, wird er zum Komplizen“, sagt die Soziologin Lisbeth Moya González auf Facebook.

Frauenmord soll zum spezifischen Straftatbestand werden

Justiz und Polizei reagierten nach Angaben der Aktivistinnen viel zu langsam auf Anzeigen häuslicher Gewalt. Noch viel zu häufig würden schutzsuchende Frauen von der Polizei mit dem Satz nach Hause geschickt, sie sollten das unter vier Augen regeln. Auch Frauenhäuser gäbe es viel zu wenig; Reformen zu mehr Geschlechtergerechtigkeit stünden nur auf dem Papier. Die Notrufnummer 103 für Alkoholiker, Selbstmordgefährdete und bedrängte Frauen sei beispielsweise nur ein Jahr lang aktiv gewesen.

Die Schweigespirale ist durchbrochen.

Sprecherin von YoSiTeCreo

Für den 8. März planen 15 feministische Organisationen einen virtuellen Marsch, nachdem ihr Antrag auf eine Kundgebung abgelehnt worden war. Unter anderem wollen die Feministinnen Frauenmord als spezifischen Straftatbestand verankern. Die Vorsitzende der staatlichen Frauenorganisation FMC, Teresa Amarelle, gab im Vorfeld des internationalen Frauentags zu, dass es noch „Herausforderungen“ zu bewältigen gäbe, sagte aber nicht, welche Priorität haben.

Die Öffentlichkeit hingegen wird immer sensibler. Das zeigte unlängst der Fall Fernando Bécquer. Der kubanische Sänger ist ein treuer Parteisoldat und galt daher in den Augen vieler als unantastbar.

Doch dann enthüllte das unabhängige Portal „El Estornudo“ im Jahr 2021 zahlreiche Berichte von Frauen, die von Bécquer sexuell missbraucht worden waren. Das löste eine Bewegung aus, die als kubanisches #MeToo bekannt wurde.

Bécquer wurde auf Grundlage der Zeugenaussagen im Jahr 2022 zu fünf Jahren Hausarrest verurteilt. Als er sich daraufhin öffentlich über seine Opfer lustig machte, löste dies so große Empörung aus, dass der Hausarrest in eine Haftstrafe umgewandelt wurde. „Die Schweigespirale ist durchbrochen”, sagt die Sprecherin von YoSiTeCreo.

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