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DONETSK OBLAST, UKRAINE - JULY 15: Ukrainian soldiers of the 72nd Brigade at their artillery position 2s1, in the direction of Vuhledar, Donetsk Oblast, Ukraine on July 15, 2023. Diego Herrera Carcedo / Anadolu Agency
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© Anadolu Agency/Diego Herrera Carcedo

Das größte Problem der Gegenoffensive: „Das russische Verteidigungssystem wird nicht systematisch auseinandergerissen“

Die Gegenoffensive der Ukraine läuft schleppend. Warum? Das hat Militärexperte Franz-Stefan Gady auf seiner Reise an die Front von Soldaten und Geheimdienstmitarbeitern erfahren.

Nach wochenlangen harten Kämpfen nähern sich Kiews Truppen an mehreren Frontabschnitten langsam aber sicher der ersten - und an manchen Stellen einzigen - russischen Verteidigungslinie. Dabei kommt der Vormarsch in Schüben, ein Dorf nach dem anderen wird in harten Kämpfen erobert.

Rund vier Wochen dauert Kiews Offensive nun schon und geht sie in der aktuellen Geschwindigkeit ohne größere Durchbrüche weiter, hätten die Truppen zum Beispiel an der Grenze der Regionen Saporischschja und Donezk die Verteidigungslinie wohl Ende Juli erreicht.

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Weiter westlich, im Dorf Robotyne, kämpfen die ukrainischen Soldaten schon direkt am russischen Bollwerk. Allerdings liegen in dieser Region hinter der ersten Verteidigungslinie zwei weitere.

Was aber sind die Gründe dafür, dass die Gegenoffensive bisher langsam und verlustreich vorankommt? Franz-Stefan Gady ist Consulting Senior Fellow am Londoner Institute for International Strategic Studies und Adjunct Senior Fellow am Center For New American Security in Washington DC. Er gilt als einer der renommiertesten Kriegsanalysten.

Als er vor drei Wochen dem Tagesspiegel ein Interview zum Stand der Gegenoffensive gab, äußerte er sich bewusst zurückhaltend, zu diffus und unvollständig war die Informationslage.

Aktuell befindet sich Gady selbst in der Ukraine. Und in Gesprächen mit Unteroffizieren, Offizieren und einer Reihe von Brigadekommandeuren sowie hochrangigen Geheimdienst- und Verteidigungsbeamten in Kiew erhielt er klare Antworten und ein umfangreiches Bild über die aktuelle Lage an der Front. Gegenüber dem Tagesspiegel äußert er sich schriftlich über seine Informationen aus erster Hand.

Die Gegenoffensive sei vor allem ein Kampf der Infanteristen auf Truppen- und Kompanieebene, an den meisten Frontabschnitten unterstützt von Artilleriefeuer. Der Fortschritt werde deswegen nicht in Kilometern, sondern in Metern gemessen.

Oft hieß es im Vorfeld der Offensive, die vom Westen ausgebildeten Streitkräfte hätten durch ihren Nato-Kampfcrashkurs im Duell mit dem veralteten Sowjet-Doktrin der Russen einen großen Vorteil. In der Theorie mag das stimmen, doch Gady zeichnet gegenüber dem Tagesspiegel ein anderes Bild.

Andernfalls wird es ein blutiger Zermürbungskampf bleiben, bei dem nach und nach Reserveeinheiten nachgeschoben werden

Franz-Stefan Gady

„Die ukrainischen Streitkräfte beherrschen noch immer keine Operationen mit verbundenen Kräften in großem Umfang“, berichtet er. Die Operationen liefen eher sequentiell als synchronisiert ab. Für den Experten ist das „der Hauptgrund für die langsamen Fortschritte“. Die mangelnden Fähigkeiten würden die Ukrainer anfällig für russischen Beschuss mit Panzerabwehrlenkwaffen und Artillerie machen. „Das russische Verteidigungssystem wird nicht systematisch auseinandergerissen“, beschreibt Gady die Situation.

Ohne taktische Anpassungen werden westliche Waffen nicht entscheidend sein

Weil dem so ist, vollzog die Ukraine schon nach kurzer Zeit einen Taktikwechsel und ging in einen Abnutzungskampf über. Der Charakter der Offensive werde sich laut Gady aber nur dann ändern, sollten Kiews Soldaten systematisiertere Angriffe durchführen können. „Andernfalls wird es ein blutiger Zermürbungskampf bleiben, bei dem nach und nach Reserveeinheiten nachgeschoben werden“, meint der Experte.

Zusätzliche westliche Waffenlieferungen, wie ATACMS (ballistische Kurzstreckenrakete), Luftabwehrsysteme, Kampfpanzer oder Schützenpanzer, sind aus seiner Sicht zwar enorm wichtig, ohne taktische Anpassungen der Ukraine würden sie sich jedoch auf dem Schlachtfeld kaum als entscheidend erweisen. Gleiches gelte für Minenräumfahrzeuge. „Einige ukrainische Angriffe wurden von der russischen Infanterie mit Panzerabwehrraketen gestoppt, noch bevor sie das erste russische Minenfeld erreicht hatten“, beschreibt Gady den Mangel an systematischem Vorgehen.

Trotz allem bleibt der Experte vorsichtig optimistisch. „Die wichtigste Frage im Hinblick auf einen weiteren militärischen Erfolg der Ukraine im Jahr 2023 ist, ob sich das ukrainische Militär an größere kombinierte Waffeneinsätze anpassen und die Mobilität auf dem Schlachtfeld wiedererlangen kann, nachdem es die russischen Streitkräfte mit seiner Feuerkraft ausreichend geschwächt hat“, erklärt er gegenüber dem Tagesspiegel. Hier sei das Urteil noch nicht gesprochen. Aus seiner Sicht werde die Gegenoffensive wohl noch bis in den Herbst hineinreichen.

Sein Fazit: „Ein militärischer Erfolg bei dieser Gegenoffensive ist für die Ukraine immer noch möglich, wird aber eine große Herausforderung darstellen.“

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