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Erst Mühsal, dann Muße: Nach dem Rad ist vor dem Wein.

© David Carlier

Velo und Wein im Kanton Waadt: Per Rad durch eine unbekannte Ecke der Schweiz

Rund um den Genfer See jagt ein Radrennen das andere. Auch Anfänger können hier den Profis nachradeln – zur Not mit E-Antrieb

Wer in Lausanne aus der Metrostation Ouchy- Olympique ins Freie tritt, dort, wo es nach wenigen Metern am Ufer des Genfer Sees entlang zum Olympiamuseum geht und das Olympische Komitee seinen Sitz hat, sieht auf dem Platz als erstes eine große digitale Uhr. Sie zählt die Sekunden herunter, bis die Tour de France in Lausanne Station macht.

Anfang Juli ist es soweit, die gesamte Equipe rollt aus Frankreich an und startet am nächsten Tag vom nahegelegenen Aigle aus. Dort sitzt der Internationale Radsportverband und wurde vor 20 Jahren das Weltradsportzentrum erbaut. Der Schweizer Zwischenstopp ist als Verbeugung vor dem Jubiläum gedacht.

Medaillenträger am Bahnsteig

In Waadt, dem drittgrößten Kanton in der Schweiz, gelegen zwischen Genfer und Neuburger See, mit Lausanne als Hauptstadt, fiebern Radsportfans auf das Ereignis hin. Doch nicht nur auf diesen Tag. Am Genfer See jagt ein Velo-Rennen das andere, irgendwo scheint immer eine Zielmarkierung für Ankömmlinge auf zwei Rädern aufgebaut zu sein.

Gerade rasen vor der Metro Ouchy-Olympique die Ersten um die Kurve herein. Der Jubel ist groß. Sie haben die 176 Kilometer lange Strecke rund um das halb auf Schweizer, halb auf französischer Seite gelegene Gewässer in knapp anderthalb Stunden geschafft. Den ganzen Tag wird man am Bahnsteig der Station stolze Medaillenträger antreffen, die nun – ihr Rennrad schiebend – nach Hause zurückkehren.

Radfahren in der Schweiz, am Genfer See, wo es gleich steil ins Gebirge geht? Damit rechnen außerhalb der Region die wenigsten Laiensportler. Deshalb wurde 2022 zum Jahr des Fahrrads im Kanton Waadt erklärt. Nicht nur für Profis ist es reizvoll, an Rebstöcken vorbei durch das Lavaux zu pesen, wie das Weinbaugebiet am nordöstlichen Seeufer heißt, sondern auch für touristische Radler. Velo und Wein empfiehlt sich hier als Kombination, auch wenn nach zu vielen Gläsern das Rad stehen bleiben sollte. Oder man schiebt es bis zur nächsten Bahnstation.

Blick auf das Schloss in Aigle.

© aFoto:Rphaelle Vannay

Aber erst einmal geht es nach Aigle ins Radsportzentrum mit angeschlossenem Velodrom. Jacques Landry, der in den 1990er Jahren bei den Olympischen Spielen zwei Mal Kanada als Radrennsportler vertrat, führt die Besuchergruppe herum. Die hölzerne 200-Meter-Bahn aus sibirischer Pinie geht an den Schmalseiten des Ovals gefährlich steil hinauf, bis zu 47 Grad in den Kurven.

Den ersten Besuchern wird schon beim Anblick mulmig zumute. Im Zentrum des Runds ist gerade für 1000 Gäste gedeckt, abends findet ein Event für die Belegschaft eines Krankenhauses statt, womit der Radsportverband ebenfalls sein Geld verdient. Denn das Training der Athleten kostet viel Geld, bis zu 12 000 Schweizer Franken im Monat.

Talente aus Thailand und Brasilien

Der Verband hat sich verpflichtet, auch Profisportler aus anderen Ländern zu unterstützen, die über keine Infrastruktur verfügen, um so neue Talente zu entdecken. Aktuell werden in Aigle 32 Athletinnen trainiert, davon sind 14 Männer. Die Boxen für ihre Räder befinden sich unter der Rennbahn. Die aufgeklebten Flaggen verraten, woher die Sportler stammen, darunter Thailand und Brasilien.

Neben der großen Halle gibt es außerdem Freiluftanlagen für BMX-Räder. Seit vergangenem Jahr gilt Freestyle als olympische Disziplin, die hier trainiert werden kann. Trotzdem stehen die Parcours mit den Rampen auch normalen Besuchern zur Verfügung.

An den Fahrradboxen der Athleten vorbei führt der Weg zu Pierre Gerbex und den Umkleidekabinen. Der 72-Jährige im azurblauen Radlerdress gibt Einführungskurse auf dem Velodrom, zunächst verteilt er passende Helme und Schuhe. Am Ende trauen sich nur drei aus der Gruppe auf die Rennräder, die weder über Bremse noch Gangschaltung verfügen. „Es muss im Kopf Klick machen“, erklärt Pierre. „Auch wenn es widersprüchlich klingt: Je schneller ihr fahrt, umso geringer die Gefahr, dass ihr stürzt.“

Die Liebe des Kantons zur Kulinarik erkennt man an dieser Skulptur in Vevey.

© Raphaelle Vannay

Mit einem flauen Gefühl stoßen sich die Laienraser ab und kletten sich an Pierre, den Blick auf sein Hinterrad geheftet. „Hopp, hopp“, heizt er allen ein, mit jeder Runde wird die Gruppe schneller, bis sie über die am Boden eingezeichnete blaue, schwarze und schließlich rote Markierung hinaus an den Schmalseiten immer mehr an Höhe gewinnt. Ein herrliches Gefühl: Der Fahrtwind weht um die Nase, die Räder schnurren wie von selbst dahin. Am Ende gibt es von Pierre noch ein Kompliment: „Je suis impressioné!“

Die Velodrom-Runde bleibt in den kommenden Tagen die sportliche Höchstleistung, der Adrenalinschub reicht vorläufig aus. Fortan stehen E-Bikes bereit, die sich tatsächlich empfehlen, wenn es hinauf in die Weinberge geht. Die Wege sind gut markiert, die Route 46/1 etwa geht von Vevey am Ufer des Genfer Sees im Zickzackkurs zu den schönsten Aussichtspunkten mit weinumrankten Pergolen und Brunnen.

Chasselas heißt Gutedel

Yves Baillod, der nicht nur (Rad-)Wanderführer, sondern im Nebenberuf auch noch Anlageberater ist, erzählt mit Blick auf den glitzernden Genfer See und die gegenüber liegende Jurakette, warum der hier angebaute Chasselas (in Deutschland Gutedel genannt) gerade im Lavaux so gut gedeiht. Von den 38 000 Hektar weltweit werden allein in der Schweiz 4000 Hektar bestellt.

Die Terrassen an den Steilhängen des Lavaux bekommen besonders viel Sonne ab: sowohl durch direkte Einstrahlung als auch die Spiegelung im See. Außerdem wärmt die in den Trockenmauern gespeicherte Tageshitze nach. Die Römer hätten die Rebsorte zum ersten Mal hier angebaut, erklärt Yves Baillod. „Der Chasselas ist am Genfer See geboren!“ Und weil die Schweizer so konservativ sind, hätten sie ihn bis heute behalten, während woanders Tafeltrauben daraus gewonnen werden.

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Winzer Alain Emery, der in fünfter Generation das 5,5 Hektar große Weingut seiner Familie in Aigle führt, nennt noch einen anderen Grund, warum der Gutedel die beliebteste Traube der Region ist. Dank seines mineralischen Geschmack hinterlässt er einen trockenen Mund und macht noch mehr Durst. „Den Chasselas kann man die ganze Nacht trinken“, fügt er augenzwinkernd hinzu. Trotzdem betreibt er keinen Export, das sei zu aufwändig, sagt er, die Kosten auch für die Versicherung wären für Schweizer Winzer zu hoch.

Dafür beliefert Emery Geschäfte und Restaurants in der Region. Sein Hof liegt direkt am Weg zum Schloss von Aigle, in dem sich auch ein Weinetiketten-Museum befindet. In der Platane vor seinem Haus hängen malerisch an Kordeln befestigte Weinflaschen, die nicht zu übersehen sind – nach dem Schloss das beliebteste Fotomotiv des Ortes, wie Emery versichert. Die vorbeikommenden Selbstversorger können es nicht übersehen.

Das Schloss Chillon gehört zu den meistbesuchten Wahrzeichen der Schweiz.

© Raphaelle Vannay

Der 46-Jährige ist Winzer aus Überzeugung. Morgens checkt er auf seinem Handy das Wetter und geht in den Berg, abends schenkt er für Gäste aus. Nur eins könnte seiner Meinung nach besser laufen: die Werbung für den Schweizer Wein. Das Land habe mehr zu bieten als Schoko, Käse, Bank und Berge.

Während Alain Emery in seinen Weinkeller bittet, lädt Aurelia Joly direkt in den Hängen zur Probe ein, auf einer ausgebauten Terrasse der Domaine Corto, die von elf Winzern der Region am Wochenende betrieben wird. Reihum stellen sie ihre Weine vor. Am frühen Freitagabend herrscht hier reger Betrieb, man trifft sich zum Apéro.

Goethe war hier

„Das Lavaux ist wie der Central Park in New York. Die Städter zieht es aus Lausanne hierher raus ins Grüne“, erklärt Joly die Beliebtheit des Ortes und empfiehlt, die Schnecken zu probieren – für manche die nächste Mutprobe. Auch Aurelia Joly schwört auf den Chasselas und gießt großzügig ein. Die Räder dürfen stehen bleiben. Der E-Bike-Shop stellt sie abends in Vevey wieder vor die Tür des Hotels.

Am nächsten Morgen geht es mit ihnen am Genfer See entlang zum Château de Chillon. Diesmal führt der Radweg ohne Steigung über die Seepromenade. Die Gruppe bricht früh auf, bevor die ersten Flaneure kommen. Am Schloss angelangt, wird es schnell voll, die amerikanischen Touristen sind wieder zurück. Mit 420 000 Besuchern war es vor Corona das meistbesuchte Museum in der Schweiz.

Die mittelalterliche Wasserburg lockte bereits im 19. Jahrhundert Reisende an, auch Goethe kam zu Besuch, um das Kreuzrippengewölbe zu bewundern, das seit 750 Jahren zwei Stockwerke trägt. Hier unten im Keller war ab 1532 für vier Jahre der Genfer Freiheitskämpfer François Bonivard eingekerkert. Sein Schicksal animierte Lord Byron zu seinem berühmten Langgedicht „Der Gefangene von Chillon“. Mary Shelley, die ihn mit ihrem Mann Percy begleitete, ließ sich hier unten zu „Frankenstein“ inspirieren.

Heute lagern im Keller gleich neben der Kapelle, wo die Gefangenen den letzten Segen vor ihrer Hinrichtung empfingen, diverse Weinflaschen vom Weingut des Schlosses zum Verkauf. Die Sorte? Natürlich Chasselas, davon trank man im Mittelalter zwei Liter pro Tag, weil dem Wasser nicht zu trauen war. Die Gäste nicken beeindruckt und radeln am Ufer des Genfer Sees zurück, dem eigenen Glas entgegen.

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