zum Hauptinhalt
Raubtier. Löwin Kigali in ihrem Gehege im Leipziger Zoo. Sie und Löwenmännchen Majo hatten kürzlich bei einer blutigen Fütterung Zoogäste schockiert.

© dpa/Jan Woitas

Leipziger Löwe frisst Zebrakopf: Wie viel Natur wollen Zoobesucher sehen?

Nachdem einer seiner Löwen öffentlich an einem Zebra nagte, wird der beliebte TV-Tierpfleger Jörg Gräser versetzt – seine Fans sind empört. Ein Lehrstück über Doppelmoral in der Tierhaltung.

Jörg Gräser fegt jetzt das Ziegengehege. Im südöstlichen Zipfel der Anlage, in dem durch einen hüfthohen Holzzaun begrenzten Streichelzoo namens „El Ranchito“, macht Gräser die Köttel weg, bringt neue Äste, damit die Afrikanischen Zwergziegen deren Blätter abnagen können. Die Flämischen Riesenkaninchen nebenan hat er eben schon versorgt.

An seine Vergangenheit erinnert an diesem Dienstag im Juni nur noch der Löwenkopf, den er als Tätowierung auf der linken Wade trägt. 

„Herr Gräser, können wir darüber sprechen, was passiert ist?“

Jörg Gräser sagt höflich, dass dies nicht gehe.

TV-Gesicht. Jörg Gräser war bis vor Kurzem regelmäßig in der ARD-Show „Elefant, Tiger & Co“ zu sehen.

© Youtube/Screenshot: Tagesspiegel

Seit Wochen steht der Tierpfleger im Zentrum einer Debatte, die inzwischen gefühlt ganz Sachsen bewegt und Zoofans weit darüber hinaus. Die trotz aller Versuche, sie einzudämmen, nur ständig größer wird und die Gräsers Arbeitgeber, den Leipziger Zoo, nicht gut aussehen lässt. Es ist eine Debatte, die auch erneut die grundsätzliche Frage aufwirft, wie viel Leid Tiere in Gefangenschaft erleben – und welche Wahrheiten der Öffentlichkeit verheimlicht werden, vielleicht auch werden müssen, damit der Zoobesuch ein Vergnügen bleibt.

Eigentlich gilt Leipzig als Vorzeige-Zoo. Mit vergleichsweise großen Gehegen, engagierten Mitarbeitern und moderner Philosophie. Pfleger Jörg Gräser ist deutschlandweit bekannt, weil er bis vor Kurzem regelmäßig in der ARD-Fernsehsendung „Elefant, Tiger & Co“ zu sehen war, als langjähriger Pfleger der Löwen, Hyänen und Erdmännchen. Seine Prominenz brachte ihm Talkshowauftritte ein, als Experte war er geschätzt.

Bis er vor einigen Wochen plötzlich von seinen Raubtieren abgezogen und in den Streichelzoo versetzt wurde.

Jemand ließ versehentlich ein Gatter offen

Man könnte denken: Wer will denn schon Löwen betreuen, wenn er stattdessen Ziegen kraulen kann? Doch die Versetzung geschah offenbar nicht freiwillig. Über die Umstände schweigt der Zoo, was wiederum zu Gerüchten führte. Lokale Medien berichten, die Abschiebung des „Star-Tierpflegers“ („Freie Presse“) habe den Zoo in eine „handfeste Krise“ („Leipziger Volkszeitung“) gestürzt. Es handele sich um nichts weniger als ein „Erdbeben“ mit enormen „Schockwellen“ („Volksstimme“). Im Internet starteten Anhänger Gräsers eine Petition, die dessen sofortige Rückkehr ins alte Revier fordert. 18.000 Menschen haben bislang unterschrieben.

Für die einen ist es ganz natürlich, dass Raubtiere Fleisch fressen. Den anderen ist das zwar bekannt, aber sie wollen es nicht sehen.

Der Leipziger Zoo zum Zebra-Eklat

Grund für die Versetzung, so geht ein Gerücht, könnte eine missglückte Fütterung der zwei Löwen Kigali und Majo im März sein. Damals wurde den Raubtieren Zebrahengst Franz verfüttert, der zuvor nur etwa hundert Meter weiter südlich gelebt hatte und rundum gesund war. Doch der Zoo hatte keine Verwendung mehr für das Tier und fand auch keinen neuen Platz. Darum wurde es geschlachtet und sollte planmäßig im rückwärtigen, von den Besuchern nicht einsehbaren Bereich des Geheges verfüttert werden. Weil ein Pfleger ein Gatter offen gelassen hatte, schleppte ein Löwe den Kadaver jedoch in den vorderen Bereich, Besucher reagierten verschreckt bis empört auf den angenagten Zebrakopf.

Jungtiere sind beliebt, brauchen später aber viel Platz

Der Sender RTL nennt die Panne eine „skrupellose Raubtierfütterung“. Die Zooleitung argumentiert dagegen, das Töten gesunder Tiere zur Verfütterung an Raubtiere sei „geübte Praxis“. Aber warum wird es den Besuchern dann verheimlicht? Auf Anfrage des Tagesspiegels schreibt der Zoo, dass beim Thema Raubtierfütterung Welten aufeinanderprallten: „Für die einen ist es ganz natürlich, dass Raubtiere Fleisch fressen. Den anderen ist das zwar bekannt, aber sie wollen es nicht sehen. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns im Zooalltag.“

Dass der gesunde Zebrahengst Franz getötet und verfüttert wurde, sei Teil des „Populationsmanagements“. Um den Bestand einer Tierart im Zoo steuern zu können, brauche es auch „unpopuläre Entscheidungen“, nämlich „Tiere, die nicht anderweitig untergebracht werden und keinen weiteren Beitrag für die Zukunft ihrer Art leisten können, zum Zwecke der Weiterverfütterung an Zootiere fachgerecht zu schlachten“.

5000
sogenannte Überschusstiere werden europaweit jährlich als Futter verwendet

Dieses Vorgehen ist üblich. Europaweit werden laut Schätzungen jedes Jahr bis zu 5000 gesunde sogenannte Überschusstiere als Futter verwendet. Doch nur wenige Tierparks kommunizieren dies offen. Als 2014 in Kopenhagen eine junge Giraffe unter den Blicken der Zuschauer zerteilt und an vier Löwen verfüttert wurde, folgte ein weltweiter Shitstorm.

Tierschützer werfen den Zoos vor, „Überschusstiere“ absichtlich und systematisch zu züchten. Da Jungtiere zu mehr Medienberichterstattung und Besucherandrang führten, sei den Zoos an regelmäßigen Geburten gelegen – und zwar so vielen, dass die Kapazitäten der Anlagen nicht ausreichten. Und somit die Schlachtung gesunder, aber erwachsener und nicht mehr so niedlicher Tiere nötig sei.

Beutetiere. Zebras im Leipziger Zoo. Hengst Franz wurde im März an die Löwen verfüttert.

© dpa/Jan Woitas

Die Anfrage des Tagesspiegels, wie viele gesunde Tiere der Leipziger Zoo in den vergangenen fünf Jahren getötet und innerbetrieblich als Futter verwertet hat, beantwortet der Zoo nicht. Auch nicht die, welche Tierarten von dieser Maßnahme betroffen waren.

Fragt man Besucher des Zoos nach ihrer Meinung zur Gräser-Affäre, hört man viel Kritik am amtierenden Zoodirektor Jörg Junhold. Dieser habe sich wohl verschätzt und geglaubt, der Unmut werde schon von alleine abschwellen. Ein Mann droht damit, sich künftig keine Jahreskarte mehr zu kaufen.

Möglicherweise ist auch alles ganz anders

Ob die ungewollt öffentliche Verfütterung des Zebras tatsächlich zur Versetzung des populären Löwenpflegers Jörg Gräser führte, ist unklar. Der Zoo äußert sich nicht dazu. Allerdings beschwerte er sich Mitte Mai auf Facebook in einem Statement darüber, dass sich „Medienvertreter und eine fachfremde Öffentlichkeit anmaßen, die Arbeit unseres Personals zu bewerten und öffentlich und vor Ort zu be- und abzuwerten“. Auf die unwirsche Reaktion folgte noch mehr Empörung, der Zoo schob ein weiteres Statement hinterher: „Wir bedauern die Entwicklung und wissen, dass Jörg Gräser ein absoluter Sympathieträger ist.“ Die Entscheidung zu seiner Versetzung sei jedoch „sorgfältig abgewogen“ und von den „Entscheidungsgremien nicht leichtfertig getroffen“ worden.

Fast wie in der Natur. Im Leipziger Zoo sieht man kaum Zäune und Stahlkäfige, die Tiere werden durch Barrieren wie Felsen, holzverkleidete Wände und Wassergräben voneinander getrennt.

© dpa/Jan Woitas

Möglicherweise ist auch alles ganz anders. Möglicherweise hängt Gräsers Versetzung nicht mit dem Zebra-Eklat, sondern einem internen Streit um die Löwenzucht zusammen. Vor vier Jahren brachte Löwin Kigali ihren ersten Wurf zu Welt – und tötete ihn anschließend komplett. Im Folgejahr gebar sie ihren zweiten Wurf, tötete auch von diesem zwei Jungtiere. 2021 glückten Geburt und Aufzucht des dritten Wurfs. Doch vergangenen September verletzte Kigali ein Junges so schwer, dass Zoomitarbeiter es einschläfern mussten. Auch der Nachwuchs, der im Januar dieses Jahres zur Welt kam, wurde eingeschläfert, da die Löwenmutter ihn nicht versorgte. Kritiker sagen, der Zoo habe die jüngsten Vorfälle nicht von sich aus kommuniziert. Der Zoo bestreitet dies. „Das Verhalten der Löwin kann nicht abschließend erklärt werden“, schreibt er dem Tagesspiegel.

So hart es klingt. Zu der Entscheidung stehe ich.

Jörg Junhold, Zoodirektor, über die Tötung eines jungen Lippenbären

Das Töten von Nachwuchs, der von der Mutter nicht angenommen wird, hat in Leipzig schon einmal zu Unruhe geführt. Als der Zoo 2006 aus ebendiesem Grund einen jungen Lippenbären einschläferte, forderte der Deutsche Tierschutzbund eine lückenlose Aufklärung des Falls. „So hart es klingt. Zu der Entscheidung stehe ich“, erklärte der Zoodirektor damals. Eine Aufzucht des Wildtiers von Menschenhand sei nicht artgerecht.

Der Löwe ist inzwischen an Kreislaufversagen gestorben

Auch das Löwengehege war bereits in den Schlagzeilen: Vor sieben Jahren gelang es zwei Männchen, den mehr als sechs Meter breiten Wassergraben zu überwinden und auszubrechen. Eines wurde erschossen, das andere konnte ins Gehege zurückgedrängt werden. Es ist Majo, dasselbe Tier, das diesen März den Kopf von Zebrahengst Franz ins Blickfeld der Besucher schleppte.

Vor sechs Wochen ist Majo ebenfalls gestorben. Kreislaufversagen. Wütende Fans von Jörg Gräser spekulieren im Internet, der Löwe könnte noch leben, wäre Experte Gräser nicht zuvor zu den Ziegen versetzt worden. Dafür gibt es zwar keine Anhaltspunkte, aber es verdeutlicht den Furor derer, die glauben, dem Tierpfleger und seinen Schützlingen sei massives Unrecht widerfahren.

Ausbrecher. Die Löwen-Männchen Motshegetsi (links) und Majo brachen 2016 aus ihrem Gehege aus, Motshegetsi wurde erschossen.

© dpa/Jan Woitas

Der Leipziger Zoo wird gefeiert für seine Immersion. Das ist ein Modewort in der Zoowelt und bedeutet, dass der Besucher den Eindruck gewinnt, er könne die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung beobachten. Deshalb sieht er auf seinem Rundgang kaum Zäune und Stahlkäfige auf dem Areal, die Tiere werden durch Barrieren wie Felsen, holzverkleidete Wände und Wassergräben voneinander getrennt. Metallabsperrungen stehen senkrecht und sind grün gefärbt, als handle es sich um Schilf. Die immersive Gestaltung suggeriert Freiheit, doch diese bleibt Illusion: Sie existiert nur in den Augen der Besucher.

Kritiker beklagen eine „Disneyfizierung“

Zoo-Kritiker halten das Konzept der Immersion für ein Täuschungsmanöver, das allein auf das Wohlbefinden der Besucher, nicht aber der Tiere abzielt. Puristen beklagen eine „Disneyfizierung“.

Als moderner Zoo wirbt Leipzig mit Transparenz gegenüber seinen Besuchern. Doch auch damit sei es nicht allzu weit her, sagt Yvonne Würz von der Tierschutzorganisation Peta. Würz beobachtet die Entwicklungen im vermeintlichen Vorzeige-Zoo seit Jahren. Am Telefon sagt sie, wenn ein Zoodirektor es ehrlich meine, müsse er die Zuchtbücher zugänglich machen, auch mitteilen, wie oft Psychopharmaka bei gestressten Tieren eingesetzt werden.

Erst im November 2022 wurden Peta Fotos zugespielt, die einen weiblichen Orang-Utan dabei zeigen, wie er wiederholt sein eigenes Erbrochenes frisst. Der Menschenaffe habe sich siebenmal in zehn Minuten übergeben, es immer wieder aufs Neue heruntergeschluckt, berichtet ein Augenzeuge. Eine eindeutige Verhaltensstörung, die ausschließlich in Gefangenschaft auftrete, sagt Würz. „Und natürlich ist es Ausdruck seelischen Leids.“ Auf Anfrage des Tagesspiegels schreibt der Leipziger Zoo, die Verhaltensweisen des Orang-Utans könnten „gegenwärtig nicht abschließend erklärt werden“.

Der Arbeitgeber sitzt am längeren Hebel.

Anonyme Person, seit Jahren im Leipziger Zoo angestellt

Zwei Monate zuvor war bereits Schimpanse Robert gestorben. Artgenossen hatten ihn attackiert, der Affe floh und ertrank in einem Wassergraben. Anders als in der Natur, sagt Würz, haben Schimpansen in Gefangenschaft wenig Möglichkeiten, Konflikten auszuweichen.

Es sieht nicht danach aus, dass sich der Zoo in der Personalie Jörg Gräser der öffentlichen Empörung beugen wird. Der Pfleger bleibt bei den Ziegen im Streichelzoo. Das Schweigen über die Gründe erklärt der Zoo auch damit, dass er die Privatsphäre und Arbeitnehmerrechte Gräsers wahren müsse, sich also schützend vor ihn stelle. Dieses Argument sei Quatsch, sagt eine Person, die seit Jahren im Zoo angestellt ist, dem Tagesspiegel. Der Tierpfleger würde ja reden, wenn man ihn ließe. „Aber der Arbeitgeber sitzt am längeren Hebel.“

Der Tagesspiegel schickt dem Zoo eine weitere Mail mit Bitte um Weiterleitung an Jörg Gräser. Darin die Frage, ob der Pfleger zu einem Interview bereit wäre, sollte sein Arbeitgeber einverstanden sein. Der Zoo antwortet: Diese Mail werde man erst gar nicht weiterleiten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false