zum Hauptinhalt
Kollektives Abtauchen: Die Schwefelmollys verursachen Wellen, die Fressfeinde verwirren.

© Juliane Lukuas

Denken zwischen Stillstand und Chaos : Was das Schwarmverhalten von Fischen mit uns verbindet

Im Exzellenzcluster „Science of Intelligence“ (SCIoI) an der TU forschen Wissenschaftler zu einem Modell für die Informationsübertragung in unserem Gehirn.

Haben Sie auch das Gefühl, dass Ihr Gehirn oft am Rande des Nervenzusammenbruchs arbeitet? Damit könnten Sie gar nicht so falsch liegen – jedenfalls nach neuesten Forschungsergebnissen des Exzellenzclusters „Science of Intelligence“ (SCIoI), das an der TU Berlin angesiedelt ist. Die Wissenschaftler:innen haben eigentlich ein Phänomen untersucht, das in den Baños del Azufre auftritt, einem etwa 15 Kilometer langen Flusssystem in Mexiko. In seinen vielen sauerstoffarmen Teichen mit schwefligen Quellen leben Millionen von „Schwefelmollys“. Das Schwarmverhalten dieser nur zwei bis drei Zentimeter großen Fische weist viele Parallelen zu Vorgängen in unserem Gehirn auf.

Die Schwefelmollys sind tagsüber fast immer an der Wasseroberfläche, um zu atmen, nur ab und zu tauchen sie ab zur Nahrungsaufnahme am Boden. „Für Räuber wie den Eisvogel sind die dicht an dicht liegenden Fische ein gedeckter Tisch“, sagt Biologe David Bierbach von der ebenfalls am Cluster beteiligten Humboldt-Universität zu Berlin. „Doch greift ein Eisvogel an, tauchen die Mollys in seiner Nähe ab. Das wird von den Nachbarn dieser Fische bemerkt, die nun ebenfalls abtauchen. So entsteht eine Kettenreaktion.“

Durch das rasche Abtauchen erzeugten die Fische kleine Wasserwirbel an der Oberfläche, so Bierbach. Die so entstehenden Wellen breiteten sich blitzartig aus und bildeten feinste Verästelungen. So warnen die Wellen nicht nur die weiter entfernten Fische vor dem Räuber, sondern verwirren den Eisvogel auch, sodass er im Idealfall seine Beute woanders sucht.

Und was hat dies nun mit Ihrem Gehirn zu tun? „Wir konnten zeigen, dass sich das System der Schwefelmollys bei der Entstehung der Wellen an einem kritischen Punkt befindet, an der Grenze zwischen Stillstand und Chaos“, erklärt Henning Sprekeler, Professor für Modellierung kognitiver Prozesse an der TU Berlin. „Es gibt nun eine viel beachtete Theorie, dass dies für unser Gehirn auch zutreffen könnte.“ In beiden Fällen ist ausschlaggebend, mit welcher Verstärkung Signale weitergegeben werden.

Wenn eine Nervenzelle im Gehirn durch einen Stromimpuls im Mittel nur eine weitere Nervenzellen anregt, beziehungsweise ein Fisch im Wasser durch sein Abtauchen im Mittel nur einen Nachbarn, beträgt die Stärke der Signalübertragung gerade 100 Prozent. Liegt die Übertragungsrate deutlich niedriger, wird sich das Signal schnell totlaufen. Ist sie höher, wird das System von einer Signallawine überrollt, in der die eigentliche Information untergeht.

Weil sich alle Phänomene nur an der zweidimensionalen Wasseroberfläche abspielen, war das System der Schwefelmollys ideal, um mithilfe von Kameraaufnahmen ein mathematisches Modell davon zu bauen. Darin eingegangen sind Parameter wie die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wellen, ihre Reichweite, die Aufenthaltsdauer der Fische an der Oberfläche. Die Fische wurden im Computer einzeln als sogenannte Agenten simuliert. Das Ergebnis: Sie verhalten sich so, dass die Übertragungsrate knapp unterhalb von 100 Prozent liegt. Das sei sinnvoll, sagt Sprekeler, um zu vermeiden, dass es versehentlich ins Chaos abdriftet.

Um herauszufinden, ob dieses Verhalten das optimale ist, um die Information über den Eisvogel-Angriff möglichst rasch im Schwarm zu verteilen, trainierte Sprekelers Team ein „Neuronales Netz“ im Computer darauf, die Lösung für die effizienteste Informationsübertragung im System zu finden. Heraus kamen genau die Parameter, die die Biologen in der Natur tatsächlich beobachtet hatten. „Wir haben hier also ein biologisches System gefunden, das als Analogie zum Gehirn dienen könnte“, erklärt Henning Sprekeler. „Mit der Beobachtung von Hunderttausenden von Fischen kommen wir wesentlich näher an die 100 Milliarden Nervenzellen im menschlichen Gehirn heran, als dies bisher in Zellkulturen oder mit winzigen Sonden in echten Gehirnen gelungen ist.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false