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Das Atomkraftwerk Brokdorf war bis Dezember 2021 am Netz. Nun wird es zurückgebaut.

© Sybille & Alexander Tetsch

Atomkraft in Deutschland: Nach der Abschaltung ist vor dem Rückbau

Im April 2023 stellten die letzten deutschen Atomkraftwerke den Betrieb ein. Doch die größten Herausforderungen liegen noch vor uns.

Von
  • Johann Köppel
  • Christian von Hirschhausen

Seit der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke am 15. April 2023 wird in Deutschland kein Atomstrom mehr produziert. Der Rückbau aller Kraftwerke aber wird uns noch viele Jahrzehnte begleiten – und ihre strahlenden Hinterlassenschaften die kommenden Generationen über eine Million Jahre belasten. Die aus dieser Perspektive recht kurze Geschichte der Nutzungsphase von Atomenergie ist dagegen schnell erzählt.

Seit der Inbetriebnahme der ersten Leistungsreaktoren in den 1960er-Jahren ist der erwartete energiewirtschaftliche Durchbruch der Atomenergie ausgeblieben: Statt kostengünstiger zu werden, wurde Strom aus Kernkraftwerken systematisch teurer. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Ländern, die noch größere Serien von Kraftwerken gebaut hatten, insbesondere in Frankreich und den USA. Auch der Traum einer „Plutoniumökonomik“ mit schnellen Brutreaktoren und theoretisch unendlichen, sich selbst „erbrütenden“ Ressourcen erfüllte sich nicht.

Der Anteil der Atomenergie am Strommix war in Deutschland und weltweit seit Jahren rückläufig. 2021 lag der Anteil erstmals seit Jahrzehnten wieder unter zehn Prozent. Angesichts des hohen Durchschnittsalters der weltweiten Kernkraftwerksflotte von mehr als 33 Jahren ist in den nächsten Jahrzehnten mit einem weiteren Bedeutungsverlust zu rechnen. Obwohl manche Medienberichte einen weltweiten Boom der Atomenergie suggerieren, laufen tatsächlich nur gut 50 Neubauprojekte – einige davon, wie im französischen Flamanville, mit großer Verzögerung.

In Deutschland wird die Atomwende nach der Abschaltung nun mit dem Rückbau fortgesetzt. Damit betreten wir weitestgehend Neuland. Denn auf der Welt wurde bisher nur eine Handvoll großer Kernreaktoren vollständig zurückgebaut. Mehr als 200 Reaktoren verharren dagegen, teilweise seit Jahrzehnten, im „langfristigen Einschluss“ oder werden nur sehr langsam zurückgebaut. In Lubmin, wo das größte deutsche Kernkraftwerk steht, wird der Rückbau voraussichtlich bis in die 2060er-Jahre dauern.

Und wohin dann mit den nuklearen Abfällen? Die Zwischen- und Endlagerung radioaktiver Abfälle ist eine generationenübergreifende Aufgabe. Auch in Berlin spielt die Zwischenlagerung solcher Abfälle eine Rolle, und Forschungsreaktoren am Standort Wannsee harren ihres Rückbaus.

In Deutschland verzögert sich bislang vor allem die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle. Stetig wachsen jedoch die Abfallmengen in den Zwischenlagern. Nachdem die einstige Festlegung auf das Endlager Gorleben in den 1970er-Jahren nicht mehr zu halten war, geht die Suche seit 2017 im Rahmen einer neuen gesetzlichen Regelung weiter. Bereits in einer ersten, deutschlandweiten Vorsondierung der möglichen Standorte schied der Salzstock Gorleben als ungeeignet aus.

Nun soll laut Standortauswahlgesetz in einem „partizipativen, wissenschaftsbasierten, transparenten, selbsthinterfragenden und lernenden Verfahren [...] ein Standort mit der bestmöglichen Sicherheit [...] für eine Million Jahre“ gefunden werden. Doch auch nach Verschluss soll das Endlager noch 500 Jahre lang für eine Rückholung der Abfälle über ein Bergwerk zugänglich bleiben, das dann neu errichtet werden muss.

Besonders kritisch diskutiert wird derzeit die Verzögerung des Zeitplans. Die ursprünglich für das Jahr 2031 geplante Standortentscheidung soll nun laut Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) bis weit in die Mitte des Jahrhunderts verschoben werden. Das aber entfacht den Streit um die „verlängerte Zwischenlagerung“ an den 16 dezentralen Zwischenlagerstandorten erneut. Viele Menschen in Deutschland werden damit bis an ihr Lebensende neben einem Lager für hochradioaktive Abfälle wohnen.

Die Kosten werden unterschätzt

Die Verschiebung dürfte auch finanzielle Auswirkungen haben. 2017 wurde ein Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung (KENFO) eingerichtet. Der Fonds, in den die Betreiber der Kernkraftwerke insgesamt knapp 24,5 Milliarden Euro einzahlten, sollte über die nächsten Jahrzehnte die Finanzierung ohne staatliche Zuschüsse sicherstellen. Jedoch dürfte auch hier, wie schon beim Neubau von Kernkraftwerken, gelten, dass Kosten in der Atomindustrie strukturell unterschätzt werden.

Die Sorge besteht, dass, ähnlich wie im Vereinigten Königreich wegen der schlechten Performance des „Nuclear Liabilities Fund“ geschehen, Kosten auf die Allgemeinheit umgelegt werden, und zukünftige Steuerzahlende die Hinterlassenschaften und Ewigkeitslasten finanzieren müssen.

Das Thema Atomenergie wird uns also erhalten bleiben; der Ausstieg aus der Atomenergie ist mitnichten am 15. April 2023 geschehen. Wirklich feiern können unsere Nachfahren wohl erst um die kommende Jahrhundertwende, wenn alle radioaktiven Abfälle sicher und endgültig eingelagert worden sind.

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