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Bettina Jarasch (M), Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen in Berlin, Nina Stahr (r), Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen in Berlin, und Werner Graf (l), Landesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen Berlin.

© picture alliance/dpa / Annette Riedl

Linke Selbstzufriedenheit und Realo-Frust: Wohin steuern die Berliner Grünen nach der Wahlniederlage?

Der Wechsel von Bettina Jarasch an die Fraktionsspitze der Grünen suggeriert Kontinuität. Doch in der Partei wächst der Wunsch nach einem Kurswechsel. Sind die Grünen dazu willens?

Für Bettina Jarasch war es im Plenum des Abgeordnetenhauses ein ziemliches Hin und Her. Nach einer Entscheidung der Senatskanzlei musste die Noch-Verkehrssenatorin bei der konstituierenden Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses auf der Regierungsbank Platz nehmen. Doch während der vielen Wahlgänge am Donnerstagmorgen musste sie den ständig verlassen und stattdessen auf ihren neuen Platz umziehen: den als neue Vorsitzende in der ersten Reihe ihrer Grüne-Fraktion. Aus der gescheiterten Spitzenkandidatin der Grünen wird die Oppositionsführerin.

Das suggeriert Kontinuität. Doch nicht alle in der Partei sind überzeugt, dass es die gerade braucht. Während sich die Grüne-Führung dieser Tage zufrieden und selbstgewiss gibt, stört einige Realos die scheinbare Ruhe umso mehr. Mit 18,4 Prozent der Stimmen habe die Partei ihr Potenzial nicht abgerufen. Mal wieder. Sie fordern eine schonungslose Aufarbeitung.

Im Zentrum der Auseinandersetzung steht ein Richtungsstreit in der Partei. Und die weit über Berlins Grenzen hinaus entscheidende Frage, mit welcher Strategie es die Grünen schaffen, in Zukunft mehr Wähler von sich zu überzeugen.

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Wie wenig ausgeprägt der Wunsch nach einer radikalen Aufarbeitung der Wahl innerhalb der Partei noch ist, zeigte sich besonders gut beim Landeswahlausschuss der Grünen Anfang März. Ursprünglich sollte auf dieser Veranstaltung die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen beschlossen werden. Nun stand – so sollte man annehmen – die Analyse des eigenen Scheiterns im Vordergrund.

Die Giffey-SPD hat nicht ernsthaft sondiert.

Philmon Ghirmai, Co-Landeschef von Bündnis90/Die Grünen Berlin

Doch statt darüber zu diskutieren, welche Fehler den Grünen nach sechseinhalb Regierungsbeteiligung die harte Oppositionsbank bescheren, ging es vor allem um die vermeintlichen Gemeinheiten der SPD: Alles, was die „Giffey-SPD“ erzählt, um Schwarz-Rot zu begründen, sei „Unsinn“ (Jarasch), die „Giffey-SPD“ habe nicht „ernsthaft sondiert“ (Co-Landeschef Philmon Ghirmai), die „Giffey-SPD“ habe kein „Verständnis einer verlässlichen Regierung“ (Co-Landeschefin Susanne Mertens), die SPD soll sich ihrer „babylonischen Gefangenschaft“ von Giffey befreien (Co-Fraktionschef Werner Graf).

Irgendwann wurde es einem Parteimitglied aus Mitte zu bunt. „Ich dachte, ich bin hier auf einer Veranstaltung der Grünen“, sagte er. Doch die Allgegenwärtigkeit der Sozialdemokraten an diesem Abend vermochte auch er nicht mehr zu verhindern.

Der Schock der Grünen über das in der Tat grobschlächtige Verhalten der SPD mag echt sein. Gleichzeitig dürfte einigen Grünen die Fokussierung auf den in Ungnade gefallenen Koalitionspartner ganz recht kommen. Nichts verbindet schließlich so sehr wie ein gemeinsamer Gegner. Dazu kommt, dass Fragen über strategische Fehler der Partei, über falsches Personal und falsche Entscheidung durch die Anti-SPD-Stimmung überdeckt werden. Die Frage ist: für wie lange?

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Denn auch in der Partei wünschen sich manche einen anderen Kurs. „Wir als Bündnis 90 / Die Grünen Berlin erkennen an, dass wir unsere Wahlziele bei der Wahlwiederholung zum Berliner Abgeordnetenhaus nicht erreicht haben“, beginnt ein Antrag, den eine Gruppe von Realos bei der Veranstaltung eingebracht hatte. „Wir werden genau analysieren, wo unsere eigenen Fehler lagen und in welchen Bereichen die Menschen mit unserer Regierungsarbeit auf Landesebene unzufrieden waren.“ Verbunden damit war die Forderung, als Partei künftig eigenständiger aufzutreten. Man müsse „gesprächs- und verhandlungsbereit in alle demokratischen Richtungen sein“.

Doch der Antrag wurde in die Gremien verwiesen. Beschlossen wurde stattdessen ein Antrag des Landesvorstands. Deutlich sanfter im Ton. Auch dieser sieht für die kommenden Wochen einen Aufarbeitungsprozess vor. Jedoch lediglich intern.

Ein großer Fehler, heißt es von Unterstützern des Realo-Antrags. Von „Selbstbespaßung“ ist die Rede. Man brauche externe Kräfte, um die Wahl aufzuarbeiten. „Bei einem Landesvorstand, der eigentlich nur aus Linken besteht, kommt natürlich nur raus, dass alle mit dem Kurs zufrieden sind.“

18,4
Prozent der Wählerstimmen entfielen bei der Abgeordnetenhauswahl 2023 auf die Grünen

Die Realo-Gruppe verbindet mit ihrem Vorstoß auch die Hoffnung, die Partei aus der festen Verankerung im linken Lager zu lösen. In die letzte Wahl gingen die Grünen von Tag eins mit dem Ziel, die Koalition mit SPD und Linke fortzusetzen. So etwas dürfe es nicht mehr geben, heißt es aus dem Realo-Flügel. Nicht erst die Tatsache, dass nun bald Schwarz-Rot und nicht Schwarz-Grün regiere, zeige, dass man sich damit Optionen verbaut habe. Künftig müsse man eigenständiger auftreten – und die Beziehungen zur CDU verbessern.

Die Reaktion vom anderen Parteiflügel kommt prompt. „Es ist ein typischer Reflex, dass Leute in Farbenspiele verfallen, aber wir limitieren uns damit“, sagt die frühere Fraktionschefin Antje Kapek. „Es geht darum, dass wir uns künftig so aufstellen, dass die Leute merken, was grüne Politik ihnen bringt.“

Dass das im Wahlkampf nicht gelungen ist, geben zumindest manche im linken Parteiflügel mittlerweile zu. Mit dem Wahlergebnis sei man erneut unter den eigenen Möglichkeiten geblieben. Interne Wähleranalysen sehen ein Stimmenpotenzial von 25 bis 30 Prozent. Doch am Wahltag reichte es zuletzt wieder nur für 18,4 Prozent und Platz drei.

Einsichten und Befürchtungen aus dem Realo-Lager

Bei den Grünen außerhalb von Berlin rumort es deshalb ebenfalls kräftig. Den Wahlkampf der Berliner Parteifreunde hat einige konsterniert zurückgelassen. Dennoch üben sich die meisten Grünen in öffentlicher Zurückhaltung – nicht jedoch Winfried Kretschmann: „Ich mache ungern Ferndiagnosen“, sagte der grüne Ministerpräsident aus Baden-Württemberg dem RND. „Aber wenn es jetzt in Berlin zu Schwarz-Rot kommt, dann müssen wir uns auch schon mal an die eigene Nase fassen, welche Fehler wir gemacht haben“, sagte der Oberrealo. Man sollte beispielsweise „keinen Kulturkampf ums Auto“ führen, forderte er.

Eine Einsicht, die viele in der Partei teilen. „Es ist eigentlich verrückt, dass wir Berlin nicht gewonnen haben“, sagt ein Bundesgrüner. In Berlin habe man den Anspruch einer grünen Bündnispartei, die nicht nur die eigene Klientel und Milieus bedient, verraten. Doch wer nicht Politik für die ganze Stadt und die ganze Bevölkerung machen wolle, der lande eben bei 18,4 Prozent – eine echte Gestaltungsperspektive habe man dann aber nicht, heißt es verächtlich.

Ein Umbruch mit Bettina Jarasch – oder trotz?

Im Realo-Lager befürchtet man, dass die Neuausrichtung nicht nur am mangelnden Interesse des linken Flügels scheitern könnte, sondern auch strategisch geschuldet ist. „Das Problem mit schwarz-rot ist, dass wir in dieser Konstellation linker als die Linkspartei sein müssen“, sagt ein Realo-Berliner. Die politische Mitte, in die Teile der Grünen eigentlich vorstoßen wollen, sei durch SPD und CDU besetzt. Für Sichtbarkeit und eine Profilierung müsse man daher strikt linke Positionen einnehmen.

Ein strategischer Schluss, zu dem auch Grüne vom linken Parteiflügel kommen – allerdings ohne das als Problem auszumachen. „In Berlin brauchen wir Berliner Antworten. Da helfen die Überlegungen aus anderen Landesverbänden nicht unbedingt“, sagt Co-Fraktionschef Werner Graf. Die Stadt sei strukturell linker als andere Bundesländer. Deshalb müsse es auch die Politik der Grünen hier sein.

Und welche Rolle nimmt Bettina Jarasch dabei ein? Sie selbst will sich in ihrer neuen Rolle als Fraktionschefin nicht äußern, solange sie auch noch Senatorin ist. Was ihre Zukunft betrifft, gehen die Meinungen stark auseinander.

„Wie soll mit Jarasch an der Spitze der Umbruch stattfinden?“, bemängeln manche aus der Partei. Wohl nicht ohne Grund schaffte sie bei einer internen Abstimmung im Realo-Flügel über die Kandidatur zur Fraktionschefin nur ein Patt gegen ihre Vorgängerin Silke Gebel, ehe diese sich nach intensiven Gesprächen zurückzog. Andere sehen zu Jarasch keine Alternative – und verbinden das wahlweise mit Siegesgewissheit, manchmal aber auch mit Sorge.

„Es geht vor allem jetzt darum, sich gut für die Opposition aufzustellen“, sagt Werner Graf. „Wie wir in dreieinhalb Jahren antreten werden, entscheiden wir nicht jetzt.“

Ob so gemeint oder nicht, für Jarasch dürfte es wie eine Drohung klingen.

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