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Zwei Studentinnen sitzen mit ihren Laptops in einem ansonsten leeren Hörsaal.

© Alexandra Wey/KEYSTONE/dpa

Corona-Bremse an den Unis: Wissenschaftsminister erklären Gesetz für Hochschulen als ungültig

Alles dicht ab Inzidenz 165? Eine Gleichsetzung mit Schulen sei unzulässig, sagen die Minister:innen. Auch Berlin will der Hochschul-Notbremse nicht folgen.

Die Wissenschaftsminister:innen der Länder versuchen, die Bundesnotbremse für die Hochschulen auszuhebeln - mit einer großzügigen Auslegung der neuen Infektionsschutzverordnung.

In einem Brief an Bundesbildungsministerin Anja Karliczek und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU) kritisieren die 16 Ministerinnen und Minister einhellig, die für den Schulbetrieb geltenden Regelungen seien auf den Hochschulbereich undifferenziert übertragen worden.

Das gelte insbesondere für den dem Schulbetrieb entnommenen Begriff des Wechselunterrichts, der ab einem Inzidenzwert von 165 an drei aufeinanderfolgenden Tagen ebenso ausgesetzt werden muss, wie der Regelunterricht. Würde daraus folgen, dass deswegen praktische Ausbildungsanteile an den Hochschulen wegfallen, "steht eine eingeschränkte Studierbarkeit des Semesters in vielen Studiengängen zu befürchten", heißt es in dem Schreiben vom Freitag, das dem Tagesspiegel vorliegt.

Dies würde Studiengänge betreffen, die für die Pandemiebewältigung bedeutsam seien, etwa Medizin und Pharmazie. An den Kunst- und Musikhochschulen bewirke ein Verbot von praktischen Ausbildungsbestandteilen sogar "faktisch einen Ausschluss vom Studium". Zuvor hatte sich schon der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Peter-André Alt, gegen eine pauschale Notbremse für die Hochschulen ausgesprochen.

Präsenzveranstaltungen sollen "unberührt bleiben"

Die Wissenschaftsminister:innen betonen, dass die Hochschulen mit den bisherigen Regelungen eines überwiegend digitalen Lehrbetriebs und ausnahmeweisen Präsenzbetriebs in der Lage gewesen seien, "den Studierenden weitgehend vollwertige Semester zu ermöglichen".

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Damit das so bleibt, interpretieren sie unter der Federführung von Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) das Gesetz so, dass es für die Hochschulen besser passt. Weil die in der Pandemie verbliebenen Präsenzveranstaltungen der Hochschulen nicht mit dem Präsenzunterricht der Schulen vergleichbar seien, müssten sie "vom Gesetz unberührt bleiben".

Studierende sitzen in einer Messehalle an Einzeltischen über ihren Prüfungsarbeiten.
Bereits geplante Präsenzprüfungen sollen auch in Berlin weiterhin möglich bleiben.

© Federico Gambarini/dpa

Damit seien praktische Ausbildungsabschnitte, etwa solche mit Patientenbezug in den Kliniken, Praktika sowie praktische und künstlerische Ausbildungsbestandteile auch ab einer Inzidenz von 165 weiterhin möglich. Dies trifft dem Schreiben zufolge ohnehin auf „Forschungstätigkeiten, Tätigkeiten in Laboren und ähnlichen Einrichtungen“ zu. Diese seien laut Gesetzesbegründung kein Unterricht.

Ebenso seien Bibliotheken, "die für die Studierenden wichtige Arbeitsgrundlage für das Fortkommen im Studium sind", vom Gesetz unberührt, stellen die Minister:innen fest. Zudem werde man die Regelung, nach der Abschlussklassen an den Schulen weiterhin in Präsenz unterrichtet werden dürfen, "auf Studierende, die unmittelbar vor dem Studienabschluss stehen", anwenden.

Wissenschaftsminister:innen bitten um Ausnahmen

Doch hinsichtlich des Studienbetriebs in Laboren, Werkstätten, am Krankenbett oder in Übungsräumen an künstlerischen Hochschulen wollen sich die Minister:innen noch einmal absichern. Sie bitten Karliczek und Spahn zu prüfen, ob "Ausnahmen beziehungsweise Klarstellungen erfolgen können".

Diese sollten "nach Landesrecht zugelassen werden, wenn diese zwingend notwendig und nicht durch Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologien oder andere Fernlehrformate ersetzbar sind", heißt es in dem Schreiben.

Unterdessen sehen sich die ersten Universitäten bereits gezwungen, die Bundesnotbremse umzusetzen. So teilt die Universität Erfurt mit: "Da die Sieben-Tage-Inzidenz in der Landeshauptstadt Erfurt seit Längerem über dem Wert von 165 liegt, ist der Präsenzunterricht an der Universität Erfurt bis auf weiteres einzustellen."

Studierende sitzen an einem Tisch und lösen ihre Aufgaben gemeinsam.
Trotz bereits geltender Notbremse soll an der Uni Erfurt die Stillarbeit in Lehrräumen erlaubt bleiben - natürlich mit Abstand und Maske.

© mauritius images / Maskot

Das betreffe alle Lehrveranstaltungen, die im Vorlesungsverzeichnis mit „bei Pandemie: PRÄSENZ“ oder „bei Pandemie: HYBRID“, also mit verminderter Teilnehmerzahl, ausgewiesen sind. An der Uni Erfurt also nimmt man die gesetzliche Gleichsetzung mit dem Wechselunterricht an den Schulen durchaus ernst - zumindest bis eine Klarstellung durch den Bund erfolgt ist.

Allerdings stehen in Erfurt weiterhin alle Lehrräume "für das Selbststudium (Stillarbeit) zur Verfügung"; das ist mehr, als die Berliner Hochschulen ihren Studierenden ermöglichen. Auch die Universitätsbibliothek könne nach Anmeldung "auch weiterhin für Studium und Forschung genutzt werden", teilt die Uni Erfurt mit.

Notbremse in Cottbus: Open Air-Lehre fällt aus

Von der Notbremse betroffen ist auch die BTU Cottbus. Was an Laborpraktika oder Praxisanteile in Werkstätten "verschiebbar ist, wird nicht gemacht", sagte eine Sprecherin dem Tagesspiegel. Festhalten müsse man hauptsächlich an Präsenzprüfungen, die nicht online erfolgen könnten - selbstverständlich unter strengsten Hygieneauflagen.

Am gravierendsten sei es indes, dass die BTU ihr Modellprojekt von Lehrveranstaltungen unter freiem Himmel unterbrechen muss, bis die Inzidenzwerte wieder sinken. "BTU goes open air" sei schon in der Anlaufphase gewesen, man wollte Tische, Stühle und Stromanschlüsse für die Laptops auf den Außengeländen installieren. "Das geht jetzt nicht mehr, da trägt die Universität Verantwortung", sagte die Sprecherin.

Berlin will Ausnahmen für Hochschulen selber regeln

Was die Bundesnotbremse in Berlin ändern könnte, wenn die Hauptstadt von einer Inzidenz von jetzt etwa 135 über die 165 rutscht, soll im Vorfeld der morgigen Senatssitzung geklärt werden, heißt es auf Nachfrage in der Senatskanzlei Wissenschaft und Forschung. Geplant sei eine Regelung über die Berliner Landesverordnung zum Corona-Infektionsschutz.

Dabei könnte sich der Regierende Bürgermeister und Wissenschaftssenator Michael Müller (SPD) auf das gemeinsame Schreiben mit seinen Kolleg:innen berufen - und auf Ausnahmen für die Hochschulen beharren.

Erst einmal aber hat die Senatskanzlei ermittelt, wie viele Studierende und Mitarbeitende an den Hochschulen derzeit überhaupt in Präsenz studieren oder arbeiten. Nach einer vorläufigen Auswertung einer Umfrage der Senatskanzlei liegen die Anteile zwischen 1,2 Prozent Studierenden der TU, die Präsenzangebote wahrnehmen, 25 Prozent an der Universität der Künste und 39,5 Prozent an der Hochschule für Schauspielkunst.

28 Prozent der Charité-Studierenden wären betroffen

An der Charité würde ein Stopp des Präsenzbetriebes 28 Prozent der Medizinstudierenden betreffen. Insgesamt erfassen die Ausnahmen vom pandemiebedingt ruhenden Präsenzbetrieb aber nur rund 3700 von 166.000 Studierenden, heißt es. Bei den Mitarbeitenden der Hochschulen beispielsweise arbeiten an der TU zehn Prozent auf dem Campus, an der HWR sind es 15 Prozent - der Rest ist im Homeoffice.

Nach einem Beschluss der Senatskanzlei und der Rektoren und Präsidenten der Hochschulen vom vergangenen Donnerstag sollen die pandemiebedingten Einschränkungen angesichts der anhaltend hohen Infektionszahlen zunächst bis 31. Mai fortgesetzt werden.

Bis dahin fänden keine Präsenzveranstaltungen statt - abgesehen von den bisherigen Ausnahmen für bereits geplante Präsenzprüfungen, Aufnahmeprüfungen und für Praxisformate, die zwingend erforderlich sind und nicht in digitaler Form durchgeführt werden können. Das gilt auch für unaufschiebbare medizinpraktische Formate der Charité. Wissenschaftliche Bibliotheken dürfen weiterhin nur Online-Dienste und einen Leihbetrieb anbieten.

Staatssekretär Krach: Hochschulen an der absoluten Schmerzgrenze

Das alles gilt vorbehaltlich der Bundesnotbremse ab einem Inzidenzwert von 165 - und vorbehaltlich des erwarteten Senatsbeschlusses zur den Ausnahmen für die Hochschulen. Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach: "Unsere Hochschulen gehen bereits an die absolute Schmerzgrenze und leisten durch Homeoffice und digitale Lehre einen vorbildlichen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie."

Die Umfrage der Senatskanzlei zeige, dass gerade einmal zwei Prozent der Berliner Studierenden überhaupt noch auf dem Campus sind - in Praxisformaten in Laboren, in der Medizin oder in den Werkstätten, die "digital schlicht nicht machbar sind".

Der Appell der Länder an die Bundesforschungsministerin und den Bundesgesundheitsminister habe "die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen normalen Lehrveranstaltungen und sehr praxisbezogenen Übungen noch einmal unterstrichen", so Krach. Deshalb bereite Berlin jetzt "entsprechende Klarstellungen zu den wenigen verbliebenen Praxisformaten" vor. Diese sollten dann "verpflichtend mit Tests  abgesichert werden".

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