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Das Tabakmosaikvirus öffnete die Tür zur Virusforschung.

© mauritius images/Alamy Stock Photos/Runk/Schoenberger

Heute vor 88 Jahren: Die Entdeckung der „lebenden Moleküle“

Ende des 19. Jahrhunderts befällt eine Seuche europäische Tabakplantagen. Die Krankheit ist lange unerklärlich – und führt schließlich zu einer Entdeckung, die die Grenzen des Lebens verschiebt.

Eine Kolumne von David Will

Was unterscheidet ein Lebewesen von unbelebter Materie? Bis vor nicht allzu langer Zeit hätten Fachleute noch gesagt: seine Fähigkeit, sich selbst fortzupflanzen.

Doch um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert bekommt diese Vorstellung Brüche. Auf europäischen Tabakplantagen grassiert damals eine Seuche, deren Ursprung man sich nicht erklären kann: die Tabakmosaikkrankheit, die weiße und schwarze Flecken auf den Blättern der Tabakpflanze verursacht.

Im Auftrag russischer Tabakfarmer tränkte der junge Biologe Dmitri Iwanowski infizierte Pflanzen in Wasser, ließ das Wasser dann durch einen speziellen Porzellanfilter laufen, das eigentlich die meisten Kleinstorganismen, auch Bakterien, herausfiltern sollte – und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass der Sud danach immer noch infektiös blieb.

Wendell Meredith Stanley gelang erstmals der eindeutige Nachweis von Viren, als er Tabakmosaikviren zu kristallisieren vermochte.

© Wikipedia

In den folgenden Jahrzehnten gingen Wissenschaftler:innen dem Rätsel weiter nach. Die Krankheit wurde offenbar durch etwas verursacht, ein „infektiöses Agens“, das noch viel kleiner als Bakterien sein musste. Einige Forscher vermuteten „lebende Moleküle“ als Ursache der Pflanzenkrankheit.

Am 28. Juni 1935, heute vor 88 Jahren, dann die Sensation. Der Chemiker und spätere Nobelpreisträger Wendell Meredith Stanley berichtete im Fachblatt „Science“, er habe das „autokatalytische Protein“ der Tabakmosaikkrankheit isolieren können. Es schien so, als könnte allein dieses Protein Tabakpflanzen infizieren und die Mosaikkrankheit auslösen.

Allerdings stellte sich alsbald heraus, dass nicht das Protein die Information für die Virusvermehrung enthält, sondern etwas anderes, das Stanley übersehen hatte.

Denn seine „reine“ Protein-Lösung war nicht ganz sauber, sondern enthielt einen kleinen Prozentsatz RNA, das Erbgut des Virus. Allein dieser biologische Datenträger enthält alle nötigen Informationen, infizierte Pflanzenzellen zur Produktion unzähliger neuer Tabakmosaikviren zu zwingen.

Als eigenständige, lebende Organismen gelten Viren, obwohl fortpflanzungsfähig, heute nicht mehr, weil sie – so die moderne Definition – keine eigene Energie umsetzen können. Sie als unbelebt zu bezeichnen, wäre aber auch nicht korrekt. Sie sind ein „Zwischending“. Etwas, was die Grenzen des Lebens verschwimmen lässt.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

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