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Eine Explosivzeichnung von Leonardo da Vinci aus dem Codex Atlanticus der Biblioteca Ambrosiana in Mailand: ein Zahnradgetriebe zerlegt in seine Einzelteile erläutert den Aufbau und das Ineinandergreifen der Bauteile.  

© Wikimedia Commons

Von Ovids "Metamorphosen" bis zu Brants "Narrenschiff": Ein Blick in Leonardo da Vincis Bibliothek

Die Berliner Staatsbibliothek präsentiert Leonardo da Vincis verlorenen Bücherschatz - wenn auch vorerst nur

Ein Schwarm aufgewirbelter Blätter. Flügelschläge auseinanderstiebender Manuskripte. Die Skulptur im Zentrum der Ausstellung markiert das Jahr 1567, in dem Leonardo da Vincis Lieblingsschüler starb. Mit dem Tod des Malers Francesco Melzi zerstreute sich der zuvor sorgsam gehütete Nachlass des Meisters in alle Winde. Von da an schrieb jede Kladde, jedes Notizbuch, jeder einzelne Bogen Papier, den Leonardo zu Lebzeiten mit Zeichnungen und Diagrammen, Exzerpten und Randbemerkungen gefüllt hatte, seine eigene Geschichte.

Die soeben eröffnete, vorerst nur online zu besichtigende Ausstellung „Leonardos intellektueller Kosmos“ in der Berliner Staatsbibliothek beginnt mit ausgewählten Manuskriptblättern. Es sind Bücherlisten. Auf ihnen verzeichnete Leonardo um das Jahr 1488 herum fünf Buchtitel, sieben Jahre später 40 und 116 im Jahr 1503/04.

Leonardo da Vinci bezeichnete sich selbst als "ungebildet"

Offensichtlich hatte der Künstler, der in jungen Jahren in eine Florentiner Malerwerkstatt eingetreten war und sich selbst als ungebildet bezeichnete, einen wachsenden Appetit auf Bücher und wurde Besitzer einer stolzen Bibliothek, die er bei Umzügen sorgsam in einer Truhe zu verstauen pflegte und die schließlich beachtliche 200 Bände umfasste. „Seine Bibliothek zählte zu den frühesten Privatbibliotheken überhaupt“, sagt Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, das die Ausstellung mit Forschungsprojekten in deutsch-italienischer Kooperation vorbereitet hat.

[Zur Ausstellung „Leonardos intellektueller Kosmos“ gibt es bis zum 28. Juni - vorerst auf virtuellem Wege - hier entlang; Informationen über die mögliche Öffnung der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz gibt es hier.]

Nur ein einziges Buch, eine prächtige Pergamenthandschrift, die er nachweislich besaß und mit einem Dutzend Anmerkungen versah, ist erhalten geblieben: ein Traktat über Architektur und Maschinen von Francesco di Giorgio. Den Ausstellungsmachern ist es dennoch gelungen, Leonardos verlorene Bibliothek zu vergegenwärtigen. Und zwar, das ist das Besondere an dieser Leonardo-Schau, vorrangig mit Werken aus verschiedenen Berliner Bibliotheksbeständen.

Leonardo besaß vor allem gedruckte Bücher. Nachdem die schwarze Kunst im Jahr 1465 Einzug in Italien gehalten hatte, gab es dort zur Jahrhundertwende bereits 150 Druckereien. Damit verbreitete sich das Wissen in nie dagewesenem Tempo. Zu seiner Bibliothek gehörten Werke wie Ovids „Metamorphosen“ (in der Ausstellung vertreten durch eine in Venedig gedruckte Ausgabe aus dem Jahr 1497) oder Petrarcas „Trionfi e sonetti“ (Mailand, 1494). Als Höfling in Mailand studierte er Latein, etwa mit Hilfe der „Rudimenta grammatices“ von Niccolò Perrotti (Venedig, 1490).

Mitunter "vergaß" da Vinci, ausgeliehene Bücher zurückzugeben

Später hatte er seine Freude an Satiren wie dem ins Lateinische übersetzten und reich bebilderten „Narrenschiff“ von Sebastian Brant (Lyon, 1498) oder den derben Schwänken über die Bräuche seiner Zeit in Poggio Bracciolinis „Facetarium liber“ (Venedig, 1487). Es spricht für den Reichtum der Berliner Bibliotheken, dem Publikum all diese Titel thematisch geordnet in zeitgenössischen Ausgaben zeigen zu können.

Ohne Detektivarbeit lässt sich kaum eingrenzen, welche Ausgabe Leonardo vermutlich besaß. Ein Wörtchen wie „spera“ in einer Bücherliste von 1495 oder, ein paar Jahre später, „spera mundi“ reicht dazu nicht aus. Ziemlich sicher ist, dass sich Leonardos Vermerk auf die beliebte „Sphaerae mundi“ von Johannes de Sacrobosco bezog, die astronomisches und geografisches Wissen zusammenfasste und seit dem 13. Jahrhundert kursierte.

Um 1510/1511 sezierte Leonardo da Vinci in Padua Leichen, wohl unter Anleitung des Anatoms Marcantonio della Torre, und studierte etwa die Drehung des Arms und der Handflächen.
Um 1510/1511 sezierte Leonardo da Vinci in Padua Leichen, wohl unter Anleitung des Anatoms Marcantonio della Torre, und studierte etwa die Drehung des Arms und der Handflächen.

© Wikimedia Commons

Matteo Valleriani hat sämtliche gedruckten Editionen der „Sphaerae“ studiert, die damals verfügbar waren: erstaunliche 25 bereits im Jahr 1495 und weitere 17 bis zum Jahr 1503/04. Der Wissenschaftshistoriker hat Druckorte, Verbreitung, Preise und die sich wandelnden Inhalte – etwa was den Anteil der Astrologie betrifft – miteinander verglichen. Die Spuren führen zu einer 1490 von Ottaviano Scoto in Venedig gedruckten Ausgabe, die für Leonardo leicht zugänglich war und nun ebenfalls aus Berliner Beständen präsentiert werden kann.

Leonardos selbst suchte zu Lebzeiten mehrere Bibliotheken auf und wunderte sich über die an die Pulte „angeketteten Bücher“. Dabei „vergaß“ er selbst schon mal, ausgeliehene Kostbarkeiten zurückzugeben. In Berlin liegen die Bücher hinter Glas. Daneben geben hochwertige Reproduktionen seiner Manuskripte Einblick in seine Gedankenwelt. Sie konfrontieren die Besucher mit einem Nebeneinander von Alltäglichkeiten („weil die Suppe kalt wird“) und tiefgründigen Überlegungen, 1-€-großen Skizzen und ausgefeilten anatomischen Studien. Die aufgewirbelten Blätter in der Mitte des Raums stehen auch für die Flatterhaftigkeit seiner Gedanken, seine unerschöpfliche Neugier und die Wissensexplosion der Zeit.

Ein Buch schrieb Leonardo nie, er hinterließ nur Manuskripte

Mit dem Zeichenstift in der Hand erforschte der als Universalgenie gefeierte Künstler die Strömungsverhältnisse in Gewässern, den Vogelflug oder die Wirkung von Brennspiegeln. Dabei stützte er sich, mehr als lange vermutet, auf das Wissen anderer. „Bemüht man das Bild von der aktuellen Wissenschaft als den ,Zwergen, die auf den Schultern von Riesen sitzen', so ist Leonardo ganz unumstritten einer jener Riesen, der die Wissenschaft in den über 500 Jahren seit seinem Tod geprägt und beeinflusst hat“, so Barbara Schneider-Kempf, die Generaldirektorin der Staatsbibliothek.

Seine nachgestellte Bibliothek mache deutlich, dass auch dieser Riese bereits auf den Schultern anderer gestanden habe.

Leonardo selbst hinterließ keine Bücher, nur Manuskripte. „Er hatte durchaus den Ehrgeiz, sich an ein größeres Publikum zu wenden“, betont Renn. Seinen „Traktat über die Malerei“ wollte er als Buch herausbringen, auch seinen einzigartigen anatomischen Atlas, mit dem er zu einer eigenen Art der Wissensvermittlung fand. Doch abgesehen von ein paar Zeichnungen regelmäßiger Vielecke für ein Buch des Mathematikers Luca Pacioli erschien nichts von ihm im Druck.

Anders Albrecht Dürer, dem einige Exponate gewidmet sind: Dürers Taufpate war der Nürnberger Buchdrucker Antoni Koberger, er selbst fertigte schon als Geselle Holzschnitte für Bücher an und wurde ein Meister des Kupferstichs. Zwar brachte er das von ihm geplante „Lehrbuch der Malerei“ ebenfalls nicht zum Abschluss.

Als er merkte, dass er sich zu viel vorgenommen hatte, konzentrierte er sich jedoch auf einige Aspekte, arbeitete sie aus und veröffentlichte sie in zwei separaten Bänden: der „Underweysung der messung, mit dem zirckel vnd richtscheyt“, und, darauf aufbauend, den „Vier Büchern von menschlicher Proportion“. Dürer war 19 Jahre jünger als Leonardo. Und damit bereits Kind der Medienrevolution.

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