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Impfung gegen HPV

© Gavi, Karel Prinsloo

Ehrgeizige Ziele: „90 Prozent aller Kinder sollten vollständig geimpft sein“

Impfraten zeigen, wie leistungsfähig ein Gesundheitssystem ist, sagt Gavi-Chef Seth Berkley. Sie sollten einer der Indikatoren sein, die die UN-Nachhaltigkeitsziele messbar machen. Ein Interview zum Start des World Health Summit in Berlin.

Herr Berkley, die Vereinten Nationen haben kürzlich 17 Nachhaltigkeitsziele verabschiedet. Gesundheit steht – anders als bei den Millenniumsentwicklungszielen – nicht mehr im Mittelpunkt. Machen Sie sich darüber Sorgen, als Chef der Impfallianz Gavi?

Als die Diskussionen zu den Nachhaltigkeitszielen begannen, ging es fast nur um den Planeten. Menschen spielten kaum eine Rolle. Aber natürlich muss man über beides sprechen, zumal die Probleme von Mensch und Umwelt miteinander verknüpft sind. Die nun vereinbarten Ziele berücksichtigen das. Ich mache mir eher Sorgen um die 169 Unterziele und 338 Indikatoren, die ihren Fortschritt messen sollen.

Warum?

Die nächsten Wochen sind ausschlaggebend dafür, was wir für die Gesundheit aller in den nächsten 15 Jahren erreichen können. 169 Unterziele sind eine Menge, deshalb möchten die UN jedem Unterziel nur zwei Indikatoren zuordnen. Die Impfrate gehört nicht selbstverständlich als einzelner Indikator dazu, auch nicht beim Unterziel „flächendeckende Gesundheitsversorgung“. Dabei kann man damit sehr gut messen, wie es um ein Gesundheitssystem steht, wer Zugang dazu hat, wer übersehen wird. Das beunruhigt mich. Denn letztlich ist es doch so: Nur was gemessen wird, wird auch gemacht.

Nach der Erfahrung der Ebola-Epidemie fordern viele, dass vor allem die Gesundheitssysteme gestärkt werden sollten.

Und eine „flächendeckende Gesundheitsversorgung“ ist Musik in meinen Ohren. Wer könnte dagegen sein? Aber das ist ein Prozess und kein messbares Ergebnis. Dass jeder Zugang hat, reicht nicht. Das Gesundheitssystem muss dafür sorgen können, dass die Menschen gesund werden oder bleiben. Eine der effektivsten Methoden zur Prävention sind Impfungen. Anders als die Verfügbarkeit von Malaria-Mitteln und Bettnetzen oder die Überwachung des Blutzuckers sind sie außerdem für alle Kinder gleichermaßen wichtig. Egal, ob sie in Somalia oder in Berlin leben.

Seth Berkley
Seth Berkley leitet die Impfallianz Gavi, die den ärmsten Kindern der Welt Impfungen bereitstellt. Zuvor gründete er IAVI. Die Initiative treibt die Entwicklung eines HIV- Impfstoffs voran.

© Gavi, Oscar Seikens.

Welches Ziel sollte in diesem Indikator verankert sein?

Ein ehrgeiziges! Es sollte nicht nur darum gehen, ob ein Kind gegen Diphterie, Tetanus und Keuchhusten geimpft ist. Das sind heute schon die allermeisten Kinder, 86 Prozent. Aber wie viele bekommen alle elf Impfungen, die die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt – einschließlich der neuen gegen HPV, Pneumokokken oder Rotaviren? Fünf Prozent! Das ist zu wenig. Mein Vorschlag ist: In 80 Prozent aller Bezirke eines Landes sollten 90 Prozent der Kinder alle Impfungen bekommen haben, die im nationalen Impfprogramm empfohlen werden. Das lässt den Staaten Spielraum, sich für oder gegen eine Impfung zu entscheiden.

Das dürfte – dank der Impfskeptiker – auch bei uns nicht so einfach sein.

Die Frage ist, wie wir diese Einstellung ändern können. Wer in Entwicklungsländern lebt, weiß, dass diese Krankheiten töten. Sie haben es in der eigenen Familie erlebt. Im behüteten Westen fürchten sich Eltern vor der Impfung. Dabei reißt so ein Verhalten Lücken in den Schutz für alle. Menschen bewegen sich, Kinder bewegen sich und damit auch die Viren, die sie in sich tragen. So kommen sie in Kontakt mit denen, die schutzlos sind.

Manche Eltern sind unbelehrbar.

Einige Kinderärzte sagen denen: Ich habe krebskranke, immungeschwächte Kinder in meiner Praxis. Um sie nicht zu gefährden, behandle ich sonst nur Patienten, die geimpft sind. Manche Eltern verstehen dann, dass es nicht nur um sie geht, sondern um den Schutz der Schwächsten. Das ist eine Möglichkeit.

Auch in Entwicklungsländern gibt es Gerüchte über Impfungen. In Pakistan werden sogar Polio-Impfhelfer ermordet.

Das ist eher politisch motiviert. Im Großen und Ganzen wollen die Menschen Impfungen für ihre Kinder. Unser größtes Problem ist, sie ihnen zur Verfügung zu stellen. Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Ihrem Kind zehn Kilometer zur nächsten Klinik gelaufen. Aber an dem Tag ist niemand da oder der Impfstoff ist alle. Gehen Sie am nächsten Tag noch einmal hin, die ganze Strecke? Mit ungewissem Ausgang?

Inwiefern zeigt die Impfrate, wie leistungsfähig ein Gesundheitssystem ist?

Impfungen kommen eben nicht von allein zu denen, die sie brauchen. Unsere Herausforderung ist: Wie erreichen wir die, die bisher übersehen wurden? Je näher man einer Impfrate von 90 Prozent kommt, desto wahrscheinlicher sind das stigmatisierte Gruppen, verarmte Stadtbewohner, illegale Einwanderer. Oder die Menschen leben geographisch isoliert. Wir brauchen neue Strategien, wie wir an sie herankommen – und müssen dann die Infrastruktur dafür aufbauen: Kühl- und Lieferkette, Gesundheitspersonal, Datensystem. Dieses System kann die Basis für eine flächendeckende Gesundheitsversorgung sein. Wenn man nur sagt: „Ich möchte Gesundheitssysteme stärken“, dann ist das nicht greifbar. Aber wenn man sagt: „Ich möchte in dieser Bevölkerungsgruppe diese Impfrate erreichen“, dann kann man überprüfen, ob es klappt und notfalls neue Ideen ausprobieren. Dieser Realitäts-Check ist wichtig.

Wie kann man die Löcher im System finden, abgesehen von Statistiken?

Masern sind ein gutes Frühwarnsystem, weil das Virus extrem ansteckend ist und die Impfung sehr gut schützt. Sobald die Impfraten sinken, reicht ein einziger Fall und man hat einen Ausbruch. Die Verantwortlichen in vielen Staaten versichern uns: Ja, wir haben eine nationale Impfkampagne gemacht. Aber drei Monate später sieht man einen Erkrankungsfall nach dem anderen. Und nun? Das Ganze wiederholen? Das bringt vermutlich wenig, weil sie dieselben Kinder erreichen würden. Stattdessen sollten sie sich jede Region, jede Bevölkerungsgruppe einzeln anschauen und sich dann auf die konzentrieren, die durchs Netz fielen. Das funktioniert nicht ohne Fachkräfte und Labore, die Fälle identifizieren können. Solche Fachkräfte und Labore kommen gleichzeitig uns allen zugute. Denn sie können auch andere Epidemien entdecken und frühzeitig Alarm schlagen.

Die Fragen stellte Jana Schlütter.

- Am Sonntag beginnt in Berlin der World Health Summit. Etwa 250 Referenten – darunter die WHO-Generalsekretärin Margret Chan sowie Vertreter vieler Staaten und Organisationen wie des Global Fund, der Bill & Melinda-Gates-Stiftung, von Ärzte ohne Grenzen und der Impfallianz Gavi – werden mit den Kongressteilnehmern aus aller Welt darüber diskutieren, was die UN-Nachhaltigkeitsziele für die globale Gesundheit bedeuten und wie sie umgesetzt werden können. Außerdem soll es darum gehen, welche Lehren die Welt aus Ebola ziehen sollte, wie man antibiotika-resistente Keime eindämmen und wie die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen besser gelingen kann.

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