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Phänomenale Körperbeherrschung - durch härtestes Training: Pauline Schäfer am Schwebebalken.

© picture alliance / Daniel Lea/Ca

Misshandlungen im deutschen Turnen: Sie wollte kein Roboter mehr sein – und bekam die Strafe

Mehrere Turnerinnen sollen von Trainerin Gabriele Frehse psychisch und physisch misshandelt worden sein. Was wusste der Verband?

Aus Gesichtern lässt sich vieles ablesen. Aber sie erzählen selten alles.

Vor etwas mehr als einem Jahr saß Ulla Koch, die Bundestrainerin der deutschen Turnerinnen, im Kunst-Turn-Forum in Stuttgart und sah fast ausschließlich in strahlende Gesichter. Rings um Koch herum hatten die für die Weltmeisterschaften in Stuttgart nominierten Turnerinnen Platz genommen. Nur etwas abseits von den glücklichen Sportlerinnen konnte eine junge Frau ihre Enttäuschung nicht verbergen. Pauline Schäfer, wahrscheinlich von allen Anwesenden die begabteste Turnerin, war nur als Ersatzfrau für die Heim-WM nominiert worden.

Heute liegt die Vermutung nahe, dass die tieftraurigen Augen nicht nur Ausdruck der sportlichen Enttäuschung waren, sondern mutmaßlich des jahrelangen physischen und psychischen Missbrauchs durch ihre Trainerin Gabriele Frehse, mit der sie bis 2018 zusammenarbeitete.

In der vergangenen Woche erzählte Pauline Schäfer dem „Spiegel“, wie Frehse sie gedemütigt hätte, indem diese etwa mit Blick auf ihren fürs Turnen vermeintlich zu voluminösen Körper gesagt habe: „Wenn ich dich sehe, könnte ich nur noch heulen.“ Das sind aber noch die geringsten Vorwürfe. Das Training habe die Grenzen von Schäfers körperlicher und seelischer Belastbarkeit überschritten. Medikamente ohne ärztliche Anordnung seien verabreicht worden. Der Druck sei so groß gewesen, dass sich drei andere Mädchen im Internat eine Zeit lang sogar geritzt hätten, berichtete sie.

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Das Problem für Frehse und auch für den Deutschen Turner-Bund (DTB) ist, dass Schäfer mit ihren Anschuldigungen nicht alleine dasteht. Ein halbes Dutzend junge Frauen werfen Frehse vor, sie als Turnerinnen mental misshandelt, ihnen starke Schmerzmittel gegeben oder sie in die Essstörung getrieben zu haben.

Frehse ist vorläufig freigestellt

Frehse bezeichnete die Vorwürfe im MDR als haltlos und will juristisch dagegen vorgehen. Gesprächsanfragen wie auch eine vom Tagesspiegel bleiben unbeantwortet. Fürsprecher hatte Frehse zunächst noch an ihrem Olympiastützpunkt (OSP) Sachsen. „Turnen sei nun mal kein Kindergeburtstag“, sagte OSP-Leiter Thomas Weise dem „Spiegel“. Aber sollten die Vorwürfe der vielen Sportlerinnen stimmen, dann wäre Turnen vielmehr eine Quälanstalt – zumindest unter Gabriele Frehse.

Inzwischen ist der OSP Sachsen ganz offensichtlich zu einer anderen Einschätzung in der Causa gekommen. Am Mittwoch wurde bekannt, dass Frehse vom Olympiastützpunkt vorläufig freigestellt worden ist. Doch damit dürfte der Fall noch nicht zu Ende sein. Denn neben dem OSP Sachsen steht auch der DTB unter Druck. In der Turngemeinde war schon lange bekannt, dass Frehse zur sehr ruppigen Sorte der Trainerinnen und Trainer im deutschen Turnen zählt.

„Es war mir bekannt, dass sich in Chemnitz Probleme entwickelt hatten. Die jetzt geäußerten Vorwürfe stellen allerdings eine neue Dimension dar“, erzählt Bundestrainerin Ulla Koch dem Tagesspiegel. Nachdem sich Pauline Schäfer und auch ihre Schwester Helene an den DTB gewandt hätten, seien unterschiedliche Maßnahmen ergriffen worden wie die die Bildung einer eigenen Trainingsgruppe, die unter der Leitung von Koch selbst stand. Auch habe es eine sportpsychologische Betreuung gegeben, sagt Koch. Vor allem aber: Frehse sei zeitweilig von den Wettkampf- und Lehrgangsmaßnahmen der Nationalmannschaft ausgeschlossen worden.

Der DTB ist keinesfalls untätig geblieben. Und dennoch stellt sich die Frage, ob der Verband, wie er selbst vorgibt, nicht vollumfänglich über die mutmaßlich finsteren Methoden der Trainerin Bescheid wusste. In dem „Spiegel“-Artikel geben frühere Schülerinnen und Trainerinnen an, sich mitunter mehrfach an höhere Stellen im Verband gewandt zu haben haben. Passiert sei aber nichts.

Kein Herz und keine Seele. Gabriele Frehse (l.) und Pauline Schäfer (r.), hier bei einer Autogrammstunde in Chemnitz, feierten zusammen große Erfolge. 2018 gingen die beiden im Streit auseinander.
Kein Herz und keine Seele. Gabriele Frehse (l.) und Pauline Schäfer (r.), hier bei einer Autogrammstunde in Chemnitz, feierten zusammen große Erfolge. 2018 gingen die beiden im Streit auseinander.

© imago images/HärtelPRESS

Wollte der DTB die Erfolgstrainerin Frehse nicht verlieren? Ist die strenge Didaktik, in der Zucht und Ordnung bis zur völligen Unterwerfung herrschen, immer noch derart etabliert im deutschen Turnen? Darauf angesprochen, teilt Bundestrainerin Koch mit: „Jede Trainerin hat ihre eigene Art und Weise, mit Athletinnen umzugehen. Und auch Athletinnen reagieren unterschiedlich auf die Charaktere der Trainer.“

So gibt es auch Turnerinnen wie Sophie Scheder, die offenbar bestens zurechtkommen mit Frehse. Für sie sei Gabriele Frehse immer Bezugsperson wie auch Ersatzmama, sagte sie dem MDR. „Natürlich ist es im Leistungssport so, dass auch mal ein bisschen der Ton verschärft wird und man angetrieben wird, aber nur so kann man letztendlich erfolgreich sein“, ist Scheder überzeugt.

Die 23-Jährige scheint ohne allzu großes Murren die strikte Methodik der Trainerin befolgt zu haben. Nach allem, was die Schülerinnen und Trainerinnen jüngst berichteten, war dies auch die einzige Möglichkeit, mit Frehse einigermaßen klarzukommen. Wer aufbegehrte, wurde teilweise mit tagelanger Ignoranz bestraft. Pauline Schäfer erzählte, dass sie irgendwann nicht mehr der kleine Turnroboter sein wollte. Danach habe sie große Probleme mit der Frau bekommen, die seit mehr als vierzig Jahren deutsche Mädchen und Frauen mit sehr großem Erfolg trainiert.

Bedingungslose Härte korrespondiert mit sportlichem Erfolg

Pauline Schäfer etwa holte mit der Trainerin Gabriele Frehse 2017 WM-Gold am Schwebebalken. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass die wahrscheinlich härteste deutsche Trainerin eine der erfolgreichsten dieses Landes ist. Bedingungslose Härte gegen den eigenen Körper korrespondiert immer noch mit großen Erfolgen gerade im Turnen. Das führt in der olympischen Kernsportart immer wieder auf die Frage zurück, wie weit das Streben nach Erfolg gehen soll, gehen darf.

Wer sich die Bilder von Schäfers Weltmeisterübung vor drei Jahren in Montreal am Schwebebalken ansieht, wird Zeuge einer unglaublichen Köperbeherrschung. Zurückzuführen nur auf stählernes Training. Auf dem Podest stehen Pauline Schäfer Tränen in den Augen. Sie weint vor Glück. Vielleicht aber erzählen die Tränen eine ganz andere Geschichte.

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