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Der Kane war ihr Schicksal. England schafft es auch bei dieser WM nicht ins Finale.

© dpa/Adam Davy

Nächste große WM-Enttäuschung: England und die unendliche Elfmeter-Geschichte

Hört das denn nie auf? Wieder einmal scheiden die Engländer wegen eines verschossenen Elfmeters bei einem großen Turnier aus.

In der 80. Minute steht Harry Kane erneut am Elfmeterpunkt. Eine gute halbe Stunde zuvor, war er schon einmal hier und hat seinem Teamkollegen bei Tottenham Hotspur, Frankreichs Keeper Hugo Lloris, den Ball mit einer Urgewalt in die linke Ecke seines Tores gedroschen. Nun hat der VAR den Engländern einen zweiten Strafstoß beschert.

Theo Hernandez hat Mason Mount unsanft zu Boden gebracht. Auch wenn der brasilianische Referee Wilton Sampaio zunächst weiterspielen lässt, die Videoüberwachung hat es genau gesehen und England kann, nachdem es in der ersten Halbzeit bereits einem Rückstand mit hohem Aufwand hinterherlaufen musste, nun erneut vom Punkt ausgleichen.

Harry Kane hat in dieser hochklassigen Partie alles gegeben. Er hat seine Rolle als Sturmspitze ausgefüllt, ist auf die Flügel ausgewichen, hat sich die Bälle aus dem Mittelfeld geholt und sich als unermüdlicher Antreiber verdient gemacht. Kane ist das Herzstück der „Three Lions“, kaum ein Angriff läuft ohne seine Beteiligung. Zwei Mal ist er allein vor Lloris aufgetaucht und hat die Chance vertan, auch zwei seiner Torschüsse von der Strafraumgrenze kann der französische Keeper parieren.

Kane jagt den Ball beim zweiten Elfmeter weit über das Tor

Kane hat bis zu dieser 80. Minute mit einem extrem hohen Aufwand gespielt. Wenn Fußball ein Sport wäre, in dem den Fleißigen Gerechtigkeit widerfährt, müsste er nun seinen zweiten Elfmeter versenken – und zum 2:2 ausgleichen. Doch Harry Kane ist kein Künstler, der Elfmeter mit einem launischen Pinselstrich verwandelt, auch diese Disziplin im Fußball arbeitet er mit der gebotenen Seriosität ab.

Und nachdem es doch beim ersten Mal mit dem Gewaltschuss so prima geklappt hat, drischt er auch diesen Ball per Vollspann auf Lloris Kasten. Und der hebt ab wie eine fliegende Untertasse und entschwindet gen Tribüne. Dorthin, wo im Unterrang ein breiter Block aus englischen Fans nun geschockt den Atem anhält.

Auch wenn Schiedsrichter Sampaio später acht Minuten nachspielen lässt, von Kanes Fehlschuss wird sich die englische Elf nicht mehr erholen. Nachdem der 29-Jährige im unglücklichen Elfmeterschießen im EM-Finale gegen Italien im vergangenen Jahr noch zu den erfolgreichen Schützen bei den Briten gehörte, reiht er sich nun doch ein in die endlose Liste an glücklosen WM-Strafstoßschützen aus dem Mutterland ein: Stuart Pearce, Chris Waddle (beide 1990), Paul Ince, David Batty (1998), Frank Lampard, Steven Gerrard (2006), you name it.

Auch Gareth Southgate hat bei der EM 1996 mal im Shootout gegen Deutschland versagt. Seit sechs Jahren coacht er nun ein hoffnungsvolles Team, das nach düsteren Jahren auf der Insel die Herzen des Publikums wieder mit Freude erfüllt. Southgate ist nach Abpfiff deshalb als erstes darum bemüht, Schaden von seinem wackeren Kapitän abzuwenden: „Für mich gewinnen und verlieren wir als Mannschaft. Wir haben zwei Tore kassiert und Chancen ausgelassen“, so der englische Trainer beim Sender ITV, „Harry hat für uns unglaublich gespielt. Ohne die Tore, die er für uns geschossen hat, wären wir nicht mal hier gewesen.“

Ich dachte, wir hätten alles gegeben. Ich weiß nicht, was wir noch hätten machen können?!

Englands Mittelfeldspieler Jordan Henderson nach dem Spiel.

Kanes Auftritt in diesem Viertelfinale steht sinnbildlich für das gesamte Team. In den Statistiken nach Spielende liegen die Briten in allen Kategorien vorn: England hat 14 Prozent mehr Ballbesitz als die Franzosen gehabt, es hat mehr Ecken herausgespielt, eine deutlich bessere Pass- und Zweikampfquote, hat seltener Foul gespielt, weniger im Abseits gestanden und doppelt so oft wie „Les Bleues“ aufs gegnerische Tor geschossen.

Nur: Southgates Team hat am Ende einen Treffer weniger auf dem Konto als der amtierende Weltmeister. Mittelfeldspieler Jordan Henderson bringt es auf den Punkt, als er ratlos in die Mikrofone spricht: „Ich dachte, wir hätten alles gegeben. Ich weiß nicht, was wir noch hätten machen können?!“

Der Moment der Entscheidung. Olivier Giroud köpft zum 2:1 für Frankreich ein.

© AFP/ADRIAN DENNIS

Vielleicht hätten sie sich einfach mehr am Stil des Teams von Didier Deschamps orientieren sollen. Die französische Elf nämlich bleibt stoisch bei der Spielweise, mit der sie bislang sehr erfolgreich durch dieses WM-Turnier schwebt. Wie beim 3:1-Achtelfinalsieg gegen Polen werkelt die „Équipe Tricolore“ so ressourcensparend und effektiv, wie es nur ein eingespieltes Team aus Hochbegabten vermag.

Nachdem England in der Anfangsphase das Spiel macht, reicht Mittelfeldspieler Aurelien Tchouameni ein gutes Auge und ein satter Schuss von der Strafraumgrenze in die linke untere Torecke, um Frankreich nach 17 Minuten in Führung zu bringen. Dem Treffer voraus geht ein rasanter Antritt von Kylian Mbappé, der zwei Gegenspieler auf den rechte Flügel mitzieht und so das Zentrum für den Torschützen freiräumt.

Ansonsten spielt Frankreichs Superstar Mbappé die meiste Zeit so unauffällig, als würde er sich bereits fürs Halbfinale gegen die physisch starken Marokkaner schonen. Aber warum auch nicht, wenn das eigene Team vorne liegt?

Frankreichs Olivier Giroud wartet geduldig auf seine Chance

Den perfekten Gegenentwurf zu Harry Kane bietet jedoch der Veteran Olivier Giroud. Geduldig wartet der 36-Jährige im Sturmzentrum, bis sich seine Chance bietet. Er weiß, Mbappé auf links, Ousmane Dembelé auf der rechten Seite und Antoine Griezmann im Zentrum hinter ihm sind stets zu Geistesblitzen imstande. Giroud muss nur mit der Beharrlichkeit des Froschs auf der Seerose auf den Moment warten, wenn die Stubenfliege vorbeikommt.

Und dieser Augenblick kommt in diesem Spiel geballt: Zunächst in der 77. Minute, als Dembelé beim Stand von 1:1 den Ball von rechts in den Strafraum schiebt, Giroud jedoch aus kurzer Entfernung an Torwart Jordan Pickford scheitert. Eine Minute später jedoch flankt Griezmann von rechts erneut in den Sechzehnmeterraum, Giroud steigt zusammen mit Gegenspieler Harry Maguire hoch und sie rauschen beide mit so viel Tempo per Kopf in den Ball, dass der Treffer zum 2:1-Siegtreffer in der Bilanz durchaus als Gemeinschaftsarbeit gewertet werden darf.

Haushoch? Ganz so weit drüber ging Kanes Elfmeter dann noch nicht. Auch wenn das für England Trainer Gareth Southgate keinen Unterschied machte.

© Imago/PA Images

Zwar tauchen die Engländer in den verbleibenden knapp zwanzig Minuten weiterhin regelmäßig vor dem Tor von Hugo Lloris auf, doch breitet sich nie das Gefühl aus, es sei nur noch eine Frage von Sekunden bis der Ausgleich fällt. Die einzig wirklich zwingende Chance in der Schlussphase bietet sich Harry Kane beim zweiten Strafstoß – und er vergibt sie krachend.

Vor offiziell 68.895 Zuschauer im Al Bayt Stadion fehlt England am Ende ein Hauch Selbstbewusstsein, um coole Franzosen in Bedrängnis zu bringen. Als das Spiel zu Ende ist, liegen die Spieler von Gareth Southgate flach auf dem Boden mit dem Gesicht im Rasen. Die Enttäuschung, es erneut wegen eines verschossenen Elfmeters nicht ins WM-Finale zu schaffen, geht den meisten sehr an die Nieren. „Wir waren hier, um zu versuchen, das Turnier zu gewinnen – wir haben geglaubt, es schaffen zu können“, erklärt Southgate die Gefühlslage seiner Eleven – und wohl auch seine eigene, „wir haben ein Team, das es hätte schaffen können“, so der Trainer.

Inwieweit sich diese konstante Entwicklung des Nationalkaders fortsetzt, steht nach dem Ausscheiden im Viertelfinale nun in den Sternen. Der 52-jährige Southgate kokettiert seit Wochen damit, möglicherweise vorzeitig aus seinem bis Ende 2024 laufenden Vertrag auszuscheiden. Nach dem WM-Aus gegen Frankreich lässt er sich zu keiner Stellungnahme in dieser Causa hinreißen. Man wolle sich, erklärt er, wie nach allen großen Turnieren gewohnt, zusammensetzen und überlegen.

Was zu langes Überlegen in entscheidenden Situationen zur Folge haben kann, hat Harry Kane an diesem Abend einmal mehr eindrücklich bewiesen.

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