zum Hauptinhalt
Raul Krauthausen ist Inklusions-Aktivist und Gründer der Sozialhelden.

© imago/APress

Raul Krauthausen über die Paralympics: „Man muss aufpassen, dass es nicht zur Freakshow ausartet“

Im PZ-Interview spricht der Aktivist über die Berichterstattung aus Tokio, Inklusion in Deutschland – und eine Zusammenlegung der Spiele.

Dieses Interview ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.

Herr Krauthausen, Sie engagieren sich seit vielen Jahren als Menschenrechtsaktivist. Was gab den Ausschlag, um den Umgang mit Menschen mit Behinderung in der Öffentlichkeit zu thematisieren?

Bei mir gab es keinen konkreten Erweckungsmoment. Es war mehr die andauernde Genervtheit. Schon als Jugendlicher habe ich mich darüber geärgert, dass viel zu viel über und zu wenig mit Menschen mit Behinderung gesprochen wird. Und dann immer mit diesem negativen Beigeschmack. Ich wollte, dass wir als Menschen mit Behinderung zu Wort kommen, dass klar wird, dass ich alles, was ich tue, nicht trotz sondern mit meiner Behinderung vollbringe. Ich hoffe, dass durch meine Arbeit Menschen mit einer Erkrankung selbst noch einmal anders darüber nachdenken und auch Journalistinnen und Journalisten anders an das Thema herantreten.

Der Deutsche Behindertensportverband hat in Kooperation mit Aktion Mensch im Zuge des Projekts Leidmedien.de der Sozialhelden einen Leitfaden für die mediale Berichterstattung veröffentlicht. Wie kann es trotzdem passieren, dass es immer wieder zu Diskriminierungen kommt?

Ich denke schon, dass so etwas nicht passieren würde, wenn man sich intensiv mit der Thematik auseinandersetzt. Aber ich kann mir vorstellen, dass nicht jeder die entsprechenden Broschüren zur Hand hat oder an derartigen Workshops teilgenommen hat. Außerdem befinden sich die Moderatorinnen und Moderatoren entsprechend in Stresssituation und verfallen in alte Muster. Gerade in Live-Momenten haben sie zudem sicher Furcht davor, in Fettnäpfchen zu treten, was ihnen dann eventuell gerade aufgrund ihrer Nervosität doch passiert.

Bei den Paralympics wurde Goldmedaillengewinner Valentin Baus im Fernsehinterview darauf angesprochen, dass er an der Glasknochenkrankheit „leide“. Der Sportler selbst korrigierte und stellte richtig, dass er die Glasknochenkrankheit „habe“ – und nicht darunter leide. Was denken Sie sich in solchen Momenten?

Ich finde es wie gesagt traurig, dass das immer noch passiert. Vor allem – die Diagnose spielt doch in der Situation gar keine Rolle. Es ist in Ordnung, wenn berichtet wird: „der kleinwüchsige Niko Kappel“. Das ist eine Situationsbeschreibung, mit dieser Information können die Zuschauenden das Geschehen besser einordnen. Vor allem im Radio. Aber in diesem Fall hätte es doch vollkommen gereicht davon zu sprechen, dass Valentin Baus als Rollstuhlfahrender den Tischtennisschläger schwingt. Sein chinesischer Gegner hat wahrscheinlich nicht die Glasknochenkrankheit – und das spielt für den Wettbewerb ebenfalls gar keine Rolle.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich kann es nachvollziehen, dass Menschen neugierig sind, wenn sie von der Glasknochenkrankheit hören. Dass Fragen aufkommen wie, „Darf ich dir die Hand geben?“ oder „Wie häufig hast du dir denn schon etwas gebrochen?“ ist normal. Aber dann sollte eine professionelle Berichterstatterin oder ein Berichterstatter unterscheiden können zwischen persönlichem Interesse und relevanten, gewinnbringenden Informationen für das Publikum.

Wie gefiel Ihnen die Reaktion von Baus?

Er hat gut reagiert. Es ist wichtig, dass die Sportlerinnen und Sportler auf die negative Konnotation in den Fragestellungen hinweisen. Dem Moderator wird das sicher nicht noch einmal passieren.

Valentin Baus gewann bei den Paralympics die Goldmedaille im Para-Tischtennis. Im Fernsehinterview stellte er später klar: Er „habe“ die Glasknochenkrankheit – und „leide“ nicht daran, wie es der Moderator ausgedrückt hatte.
Valentin Baus gewann bei den Paralympics die Goldmedaille im Para-Tischtennis. Im Fernsehinterview stellte er später klar: Er „habe“ die Glasknochenkrankheit – und „leide“ nicht daran, wie es der Moderator ausgedrückt hatte.

© imago images/Mika Volkmann

Welche Chancen bieten sich durch internationale Großereignisse wie die Paralympics für die Inklusion?

Ich bin da etwas nüchtern. Die einzige Chance, die ich sehe, besteht darin, dass mehr darüber gesprochen wird, das Thema also mehr Aufmerksamkeit bekommt. Die Spiele haben aber auch immer einen gewissen Touch von Inspirationsporno. Man muss aufpassen, dass das ganze nicht zu einer Freakshow ausartet. Dass es also nicht mehr um die sportliche Leistung geht, sondern um die Faszination behinderte Menschen. Diese Faszination für behinderte Körper sollte stärker hinterfragt werden.

Im Rahmen der Paralympischen Spiele 2012 in London wurden die Athletinnen und Athleten als „Superhumans“ bezeichnet. Wie empfanden Sie diese Kampagne?

Naja, die Kampagne war einfach eine Umkehrung der leidigen Konnotation in eine heroische. Das ist natürlich genauso falsch. Ich finde es unverständlich, warum Menschen mit Behinderung immer nur entweder Superheldinnen und Superhelden sind, die ohne Arme und Beine den Mount Everest besteigen – oder die Sorgenkinder, die unter Schmerzen leiden und zu Trauer und Kummer aller führen müssen. Ein Dazwischen, also ein normaler Mensch mit Behinderung, scheint irgendwie unvorstellbar zu sein.

Wie sehen Sie die Leistungen der Sportlerinnen und Sportler?

Ich finde, es muss endlich verstanden werden, dass es sich einfach um stinknormale Sportlerinnen und Sportler handelt, die sich nicht „aufgerappelt“ haben und Profisport betreiben, um ihren „Lebenswillen unter Beweis zu stellen“. In der Psychologie sagt man, dass Menschen etwa drei bis fünf Jahre benötigen, um nach einem Schicksalsschlag wieder so glücklich zu sein wie davor. Die Leistungen der Athletinnen und Athleten haben somit überhaupt nichts mit übermenschlichen Kräften zu tun. Es handelt sich um ganz langweilige Psychologie.

Ach, und was mich auch noch nervt: Mir als Person mit Behinderung wird häufig nahegelegt, Sport zu treiben. Von allen Seiten höre ich, dass ich mich in diesem Bereich engagieren soll. Warum bitte habe ich nicht wie jeder andere Mensch die Berechtigung dazu, ein Sportmuffel zu sein? Manchmal habe ich auch das Gefühl, andere sind der Meinung, ich müsste Sport machen, um „weniger behindert“ zu wirken.

Was hat sich in diesem Bereich in den vergangenen Jahren verändert?

Ich glaube durchaus, dass die Sensibilität in den Medien zugenommen hat. Ich lese nicht mehr so häufig wie früher Formulierungen wie „an den Rollstuhl gefesselt“, „tapfer gegen Behinderung kämpfend“. Auch finde ich gut, dass wir häufiger angefragt werden, Workshops zu geben, und unsere eigene Wahrnehmung Gehör findet. Es ist noch viel zu tun, aber ich habe den Eindruck, es wird wenigstens allmählich etwas differenzierter.

Was sind Ihre Wünsche gegenüber dem Behindertensport und seiner Wahrnehmung?

Diskriminierungsfreie Berichterstattung sollte in der Ausbildung viel mehr thematisiert werden. Was dabei am meisten hilft: Inklusion. Menschen mit Behinderung selbst in die Ausbildungsjahrgänge aufnehmen und in den ersten Arbeitsmarkt integrieren. Es sollte zudem viel mehr über die Inklusivität der Sporteinrichtungen selbst geredet werden: Wie steht es um die Barrierefreiheit von Sportstätten? Wie zugänglich sind Sportvereine? Welche Förderungen erhalten Paralympionikinnen und Paralympioniken? Zudem nehme ich wahr, dass der „Dabei sein ist alles“-Charakter bei den Paralympischen Spielen in den Vordergrund gestellt wird.

Während bei Olympia die Berichterstattung kriegsähnliche Zustände einnimmt und die ganze Nation mitfiebert, wird bei den Paralympischen Spielen häufig der Kopf getätschelt, die ach so tolle Leistung gelobt und gewürdigt, wie toll es sei, dass der Sportler beziehungsweise die Sportlerin mitgemacht hat. Außerdem herrscht die Meinung vor, dass es viel leichter sei, bei den paralympischen Wettkämpfen eine Medaille zu erringen. Das liegt, finde ich, häufig daran, dass sich die Rezipienten ebenso wie die Autorinnen und Autoren kaum mit dem Klassifizierungssystem auseinandersetzen und folglich wenig Ahnung haben.

Können Sie ein Beispiel in der Medienberichterstattung benennen, das für Sie am einschlägigsten war?

Es ist schwer, es auf einzelne Geschehnisse zu reduzieren. Insgesamt kann ich sagen: je privater der Medienanbieter, desto voyeuristischer. Ich folge zum Beispiel recht streng meinem selbst auferlegten Credo, dem Privatfernsehen kein Interview zu geben. Ich möchte nicht dazu instrumentalisiert werden, diese Sensationsgier zu befriedigen.

Würden Sie sich dafür aussprechen, die Paralympischen und Olympischen Spiele zusammenzulegen?

Auf jeden Fall ist die Zusammenlegung ein sehr guter Ansatz. Ich bin immer dafür, dass Menschen mit und ohne Behinderung Dinge zusammen machen. Es gibt doch schon ein komplexes Klassifizierungssystem, sowohl bei Olympia als auch bei den Paralympischen Spielen. Warum kann nicht eine Einteilung in Gewichtsklassen und Co. um weitere Merkmale ergänzt werden, sodass man einen gemeinsamen fairen Wettkampf für alle gestaltet? Momentan finde ich, sind die Paralympischen Spiele wie das „Reste essen“. Die meisten Journalistinnen und Journalisten reisen ab, viele Zuschauerinnen und Zuschauer haben kein Interesse. Ich denke, wenn man sie voranstellt, wird das nichts Grundlegendes verändern – und die Paralympischen Spiele wären nur das Vorgeplänkel.

Team Deutschland bei der Eröffnungsfeier der Paralympics.
Team Deutschland bei der Eröffnungsfeier der Paralympics.

© imago images/GEPA pictures

Herr Krauthausen, Sie waren in dieser Woche beim Bundespräsidenten zu Gast. Was genau haben Sie thematisiert?

Das Treffen drehte sich insbesondere um Beschäftigte in Behindertenwerkstätten. Mir geht es ganz entschieden nicht weit genug, dass Menschen mit Behinderung zunehmend um ihre Meinung gefragt werden. Viel wichtiger ist es, einen Schritt weiterzugehen und sie wirklich mit entscheiden zu lassen.

Welche zukünftigen Entwicklungen erwarten Sie in Deutschland?

Ich muss sagen, die deutsche Performance im Bereich der Inklusion ist wirklich peinlich. Wir belegen ganz klar einen der Plätze im hinteren Drittel im europäischen Vergleich. Österreich ist viel vorangeschrittener, Unternehmen zu Barrierefreiheit zu verpflichten. Italien, Spanien und Finnland haben ein deutlich inklusiveres Bildungssystem, in Großbritannien wurden Behindertenwerkstätten in den Achtzigern geschlossen – wir bauen sie weiter aus. Ich verstehe oft nicht, warum Deutschland die Menschen so kategorisiert und sortiert. Vielleicht ist es etwas Traditionelles. Noch dazu scheint die Bildungslandschaft schwer reformierbar. Das hat sich ja während der Corona-Pandemie auch wieder gezeigt.

Insgesamt passiert leider nicht das, was notwendig wäre. Sicher ist unser Gesundheitssystem nicht das schlechteste, und mein Rollstuhl wird zumindest grundlegend von der Krankenkasse finanziert – das ist nicht in jedem Land der Fall. Dennoch: Behinderungen werden in Deutschland immer noch als etwas wahrgenommen, das therapiert, „weggemacht“ oder ignoriert gehört. Wir müssen noch viel kämpfen, um eine gemeinsame Teilhabe in der Gesellschaft zu erlangen.

Was kann jede und jeder Einzelne für eine inklusivere Gesellschaft tun?

In unserem Newsletter „Die neue Norm“ berichten wir jede Woche über Themen in Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung. Dadurch erzielen wir hoffentlich eine höhere Sensibilität und insbesondere mehr Kontakt untereinander. Es sollte sich jeder fragen: Wie viele Menschen mit Behinderung habe ich in meinem Umfeld? Wenn es wenige sind: Woran liegt das? Was kann ich dagegen tun? Menschen ohne Behinderung sind in jedem Fall dazu eingeladen, sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einzusetzen.

Dies ist auch nicht allzu schwer möglich: Wenn ich zum Beispiel in einer Yogagruppe bin, kann ich schauen: Hat jemand von den Teilnehmenden eine Behinderung? Wie barrierefrei ist überhaupt der Yogaraum? In der Schule der eigenen Kinder kann nachgehakt werden, wie viele Schülerinnen und Schüler mit Behinderung in der Klasse sind und warum nicht, oder wie steil die Rampen am Eingang sind. Und das ist noch nicht einmal immer altruistisch. Schließlich erleichtert Barrierefreiheit meist auch das Leben von Menschen ohne Behinderung. Zumindest habe ich noch nie von Barrierefreiheit gehört, die Menschen ohne Behinderung geschadet hätte.

Eine letzte sportliche Frage zum Abschluss: Welche Sportart verfolgen Sie bei den Paralympics gerade mit besonderer Begeisterung?

Ich gucke tatsächlich gerne die Zusammenfassung. Die Reglements verstehe ich weder bei den Olympischen noch bei den Paralympischen Spielen. Aber Rollstuhlbasketball finde ich sehr schön dynamisch. Besondere Freude bereitet mir das Zuschauen, wenn ich die Personen auf den Bildschirmen wiedererkenne. Wenn ich ihnen schon einmal persönlich begegnet bin, verfolge ich die Sportnachrichten natürlich besonders motiviert und freue mich mit ihnen.

Dieses Interview ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.

Lilith Diringer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false