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Eine nur zentimetergroße Klettverschlusslasche am Schuh von Matthias Schulze trennte ihn von Bronze.

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Disqualifikationen bei den Paralympics: Frust, Trauer, Schuhlasche, Wut

Einige Medaillen, die als sicher galten, gingen in Tokio nach dem Wettbewerb noch verloren. Das hatte oft ziemliche banale Gründe. Eine Rückschau.

Man stelle sich das mal vor: Man gibt alles, im Sport, in der Liebe, im Leben. Und dann ist es aus, einfach vorbei. Nicht weil man es hat in die Brüche gehen lassen oder es zum großen Knall kam. Nein, alles viel simpler: Der Grund fürs Scheitern bei den Paralympics ist ein Stück weißer Stoff. Oder noch banaler: eine Schuhlasche, die nicht richtig sitzt.

Klingt wahnsinnig penibel? Ist es auch, aber so ist der Spitzensport nun einmal. So muss er sein, um im Vorhinein ausschließen zu können, dass Teilnehmende unerlaubte Vorteile haben. Die einfachste und aus Zuschauerperspektive am besten nachzuvollziehende Maßnahme sind die Doping-Kontrollen. Niemand soll sich mit Substanzen boosten, die nichts im Athleten-Körper zu suchen haben.

Wie wichtig diese Kontrollen sind, zeigt der Fall Marcin Polak. Der polnische Bahnradfahrer wurde nach seinem Rennen zu Bronze in der 4000-Meter-Einzelverfolgung vom Weltradverband (UCI) vorläufig suspendiert. Bei ihm wurde Epo, ein Blutbooster, festgestellt.

Doch um disqualifiziert oder verwarnt zu werden beziehungsweise einzelne Werte gestrichen zu bekommen, reichen ganz andere Dinge. Und manchmal auch sehr kleine, bei denen man nur mit der Stirn runzeln kann. Matthias Schulze, Kugelstoßer, ist etwa zwei Meter groß. Ihn und eine Bronzemedaille trennte letzten Endes eine nur zentimetergroße Klettverschlusslasche an Schulzes Schuh. Die Lasche berührte bei seinem besten Wurf die Übertrittlinie, die Weite wurde für nichtig erklärt. „Ich freu' mich wie ein Affe und dann seh' ich die scheiß Rote Fahne. Derzeit ist es sehr, sehr ernüchternd“, sagte Schulze unmittelbar nach dem Wettkampf am vergangenen Mittwoch.

Viele Malaysier regten sich im Netz auf

Auch wegen eines Übertritts wurde Nicole Nicoleitzik disqualifiziert. Die Läuferin wähnte sich am vergangenen Sonntag bereits als Bronzegewinnerin über 200 Meter (Startklasse T36). Doch kurz nach dem Zieleinlauf kam heraus: Nicoleitzik hatte minimal die Bahn übertreten, sie wird disqualifiziert. Das deutsche Team verzichtet auf Protest.

Nicole Nicoleitzik brachte sich um Bronze, weil sie minimal die Bahn übertreten hatte.
Nicole Nicoleitzik brachte sich um Bronze, weil sie minimal die Bahn übertreten hatte.

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Den wiederum, also den Protest, gab es, als dem malaysischen Kugelstoßer Muhammad Ziyad Zolkefli Goldmedaille und Weltrekord nachträglich aberkannt wurden. Gold und den Rekordhaltertitel erhielt dann der Ukrainer Maksym Koval. Viele Malaysier regten sich im Netz auf, manche riefen zu Beleidigungen gegen das ukrainische Team auf. Warum wurde dem Kugelstoßer die Medaille aberkannt? Weil er nicht pünktlich zum Callroom, dem Ort vor Wettkampfbeginn, erschienen war. Drei Minuten waren Muhammad Ziyad Zolkefli und zwei weitere Wettbewerber, die es nichts aufs Treppchen geschafft haben, zu spät. Obwohl sie ihre Würfe alle absolviert haben, steht bei ihnen jetzt „dns“ als Wertung: „did not start“, sind nicht gestartet.

Kugelstoßer Muhammad Ziyad Zolkefli wurde die Goldmedaille aberkannt, weil er nicht pünktlich zum Callroom kam.
Kugelstoßer Muhammad Ziyad Zolkefli wurde die Goldmedaille aberkannt, weil er nicht pünktlich zum Callroom kam.

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Nachträglich wurde auch die deutsche Schwimmerin Mira Jeanne Maack nach ihrem Vorlauf über 100 Meter Brust disqualifiziert. Sie erreichte den vierten Platz, hatte Aussichten auf das Finale – bis sie die Nachricht bekam, dass sie und ihre Mittbewerberin, die Kanadierin Abi Tripp, disqualifiziert wurden. Maack konnte sich dies erst einmal nicht erklären: „Ich weiß nicht, wieso ich qualifiziert wurde. Es ist sehr traurig. Vielleicht war was mit meiner Brustbewegung falsch. Ich kann es mir nicht erklären“, sagte sie dem ZDF am Mittwoch.

Ein Guide zog die blinde Läuferin unerlaubt nach vorne

Im Gegensatz zu Maack wussten der Deutsche Léon Schäfer und der Däne Daniel Wagner immerhin noch, wofür sie beim 100-Meter-Sprint eine Verwarnung bekommen haben: ihr weißes Handtuch. Das nahmen die beiden mit zum Start und dass sie das tun, hatten beide auch vorher abgeklärt. Zwischenzeitlich versah man sie mit einer Gelben Karte, die wurde nach wenigen Stunden fallengelassen. „Also ein Missverständnis, alles gut“, sagte Schäfer. Ein Happy End quasi, denn Schäfer bekam seine Bronzemedaille.

Bei einer reinen Verwarnung blieb es bei der 4x100-Meter-Staffel nicht: Weil der chinesische Guide die blinde Läuferin Liu Cuiqing an einer Stelle unerlaubt nach vorne zieht, ist der zweite Platz obsolet. Das chinesische Staffel-Team wurde disqualifiziert. Ähnlich glücklich wie Schäfer, wenn nicht noch glücklicher, wird hingegen die israelische Ruderin Moran Samuel sein. Im Vorlauf hat sie zuerst das Feld ihrer Konkurrentinnen hinter sich gelassen und den ersten Platz erreicht, wurde dann aber wegen einer falschen Sitzeinstellung bestraft. Sie zog nicht in direkt in das Finale ein, sondern musste in den Hoffnungslauf. Letzten Endes schaffte sie es doch ins Finale – und ruderte sich zur Silbermedaille.

Die blinde Läuferin Liu Cuiqing wurde von ihrem Guide unerlaubt nach vorne gezogen.
Die blinde Läuferin Liu Cuiqing wurde von ihrem Guide unerlaubt nach vorne gezogen.

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Was all diese Fälle eint? Ganz klar: die Emotionen. Die Anspannung, der Frust, die Trauer, die Wut, die Ratlosigkeit. Aber auch die Freude, wenn es dann doch klappt. Wie niederschmetternd es sein kann, wenn man wegen einer Lappalie disqualifiziert wird, verrät ein Blick auf die Reaktion des Kugelstoßers Matthias Schulze, kurz nachdem die Rote Fahne geschwenkt wurde. Erst warf er wutentbrannt das Handtuch auf den Boden, dann ging er davon. Das Gesicht seltsam leer und die Augen starr nach unten gerichtet. Zu Bronze stand ihm die Schuhlasche im Weg. Aber das, so hart es klingt, ist auch Sport.

Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier. Alle aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen lesen Sie in unserem Paralympics Blog. 

Max Fluder

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