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Louis van Gaal will mit den Niederlanden Weltmeister werden. Reicht die Qualität?

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Louis van Gaal und sein letzter Auftrag: Der WM-Titel fehlt ihm noch

In seiner Karriere hat Louis van Gaal fast alles gewonnen. Zum Abschluss will der frühere Bayern-Trainer in Katar Weltmeister werden. Deshalb ist er noch einmal auf die Bank zurückgekehrt.

Tim Krul hat im holländischen Fußball nicht die allertiefsten Fußspuren hinterlassen. Nur 15 Mal ist er als Torhüter für die Elftal zum Einsatz gekommen, und trotzdem hat Krul auf gewisse Art Geschichte geschrieben. Dank einer Eingebung von Louis van Gaal.

Vor acht Jahren bei der Weltmeisterschaft in Brasilien war das. Im Viertelfinale zwischen Holland und Costa Rica – kurz vor Schluss der Verlängerung stand es immer noch 0:0 – traf van Gaal als Bondscoach eine ebenso spektakuläre wie seltsame Entscheidung: Louis van Gaal wechselte seinen Torhüter aus. Oder besser: Er wechselte Tim Krul ein, einen ausgewiesenen Elfmeterkiller.

Die Welt staunte, aber Krul parierte zwei Elfmeter, Holland gewann und zog ins WM-Halbfinale ein.

Inzwischen spielt Tim Krul für den englischen Zweitligisten Norwich City, er ist 34 und für die niederländische Nationalmannschaft seit anderthalb Jahren nicht mehr zum Einsatz gekommen. Aber das stört Louis van Gaal allenfalls am Rande.

Mit dem Auge des Meisters

Im September hat er Krul wieder zur Nationalmannschaft eingeladen. Nicht für die anstehenden Spiele in der Nations League. Krul sollte aus England einfliegen, um an einer wissenschaftlichen Versuchsreihe teilzunehmen. Mit deren Hilfe wollte der Bondscoach herausfinden, wer bei der WM in Katar am ehesten für die Tim-Krul-Rolle in Frage kommen könnte: als Torhüter, den er bei einem K.-o.-Spiel eigens fürs Elfmeterschießen einwechselt.

Für den Test hatte er Peter Murphy engagiert, einen Volleyballtrainer, der nach van Gaals Einschätzung die nötige Expertise mitbrachte. Mehr jedenfalls als er selbst. „2014 war allein das Auge des Meisters entscheidend“, sagt van Gaal. „Jetzt haben wir eine wissenschaftliche Basis. Das ist Innovation.“

71 Jahre alt ist Hollands Nationaltrainer inzwischen. Bei der Endrunde in Katar ist er der älteste aller 32 Trainer, und in der gesamten Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften waren nur Otto Rehhagel und Oscar Tabarez aus Uruguay noch ein paar Tage älter.

20
Titel hat van Gaal in seiner Karriere gewonnen.

Aber was heißt bei van Gaal schon alt? „Er ist ein sehr progressiver Trainer“, sagt Willem Vissers, Sportjournalist der niederländischen Tageszeitung „De Volkskrant“. „Seiner Zeit ist er in vielem voraus gewesen.“

Louis van Gaal überlässt nichts dem Zufall – und vor der WM in Katar schon mal gar nicht. Als er vor zehn Tagen den Kader für das Turnier am Persischen Golf präsentierte, hat er einen kleinen Einblick in seine Arbeitsweise gegeben. Er habe die Spieler nicht nach seinem Bauchgefühl nominiert, sondern streng nach objektiven Kriterien entschieden.

Dazu habe er sich jeden Dienstag mit seinem Scoutingteam getroffen, um über die potenziellen WM-Kandidaten zu beraten. 20 Jahre nach seinem Tod dürfe die Öffentlichkeit seine Notizen einsehen, sagte van Gaal. „Dann können alle sehen, wie sorgfältig ich gearbeitet habe.“

Sich unsterblich machen: Das ist es, was Louis van Gaal auf seiner letzten Trainerstation noch antreibt. „Er hat alles gewonnen, nur das Allergrößte noch nicht“, sagt Willem Vissers, der van Gaal seit 30 Jahren beruflich begleitet und gerade ein Buch („Leven met Louis“) über ihn veröffentlicht hat. „Darum ist er noch einmal zurückgekommen.“ Der Mann hat noch etwas zu erledigen.

Das ist das größte Geschenk, das ich je in meinem Leben bekommen habe.

Louis van Gaal über seine Teilnahme an der WM

Van Gaal hat Ajax Amsterdam trainiert, den FC Barcelona, Bayern München und Manchester United. Er ist mit AZ Alkmaar überraschend Holländischer Meister geworden, hat auch in Spanien und Deutschland den Titel geholt, war Pokalsieger in Holland, Spanien, Deutschland und England, hat mit Ajax den Uefa-Pokal gewonnen, die Champions League, den europäischen Supercup, den Weltpokal.

Nur der WM-Titel fehlt noch. Dass van Gaal mit 71 die Chance hat, diesen Makel noch zu beheben, das betrachtet er selbst als „das größte Geschenk, das ich je in meinem Leben bekommen habe“.

Wie alles begann. 1992 gewann van Gaal (hier neben Bryan Roy) mit Ajax den Uefa-Cup. Es war sein erster Titel.

© Foto: imago sportfotodienst

Katar nimmt er dafür in Kauf. „Er hätte es lieber anders gehabt“, sagt Vissers, „aber die WM findet nun mal in Katar statt.“

Van Gaal hat die Vergabe der Endrunde an den Zwergstaat schon 2013 kritisiert, die Entscheidung der Fifa erst vor kurzem erneut als lächerlich bezeichnet, und in der vergangenen Woche trainierte sein Team mit einigen Arbeitsmigranten. Bei seinem ersten Auftritt im Teamquartier in Doha sprach van Gaal jedem das Recht zu, die WM zu ignorieren. Trotzdem hofft er, „dass alle zuschauen, wenn wir im Finale sind – damit sie sehen, wie gut wir sind“.

An Kritik an Katar hat van Gaal nicht gespart. In Doha trainierte sein Team mit Arbeitsmigranten.

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Nach der EM 2021, bei der Oranje im Achtelfinale an Tschechien gescheitert war, hat van Gaal den glücklosen Frank de Boer als Bondscoach abgelöst. „Wer sonst hätte diesen Job übernehmen können?“, hat er bei seiner Vorstellung gefragt, nachdem er fünf Jahre nach seinem Aus bei Manchester aus dem Vorruhestand ins aktive Berufsleben zurückgekehrt war.

Für van Gaal ist es die dritte Amtszeit als Bondscoach. Bei der ersten, um die Jahrtausendwende, scheiterte er mit einem überragend besetzten Kader in der Qualifikation zur WM 2002.

In Brasilien landete er 2014 mit einer qualitativ deutlich schwächeren Mannschaft immerhin auf Platz drei. Und jetzt in Katar? „Wir haben eine große Chance, Weltmeister zu werden“, sagt van Gaal. „Es gibt wenige Trainer, die sich das auszusprechen trauen.“

Der Tiefpunkt. Im September 2001 musste van Gaal die 0:1-Niederlage gegen Irland erklären, durch die Holland die Teilnahme an der WM in Japan und Südkorea verpasste.

© Foto: imago/Pro Shots

Hollands Bondscoach setzt auch auf die Macht der Fantasie. Wer sich vorstellen könne, Weltmeister zu werden, der könne es auch wirklich schaffen. „Ich habe sehr viel Lust“, sagt van Gaal. „Aber viel wichtiger ist, dass die Spieler Lust haben.“

Nachdem bekannt geworden war, dass er an Prostatakrebs erkrankt war, schickte ihm Nationalspieler Steven Berghuis eine SMS, um ihm gute Besserung zu wünschen. „Danke“, antwortete van Gaal, „ich hoffe, dass du bereit bist, bald Weltmeister zu werden.“

Van Gaal ist es. Nicht kann ihn von seinem Weg abbringen: nicht die Prostatakrebserkrankung, die er vor seiner Mannschaft geheim gehalten hat, und auch nicht der Sturz vom Fahrrad, der van Gaal dazu zwang, ein Spiel seines Teams aus dem Rollstuhl heraus zu coachen. Dem einen, dem großen, dem letzten Ziel ordnet er alles unter.

Schon bei der WM 2014 war sein Ansatz vor allem: pragmatisch. Dass er die Elftal mit einer Fünferkette hat verteidigen lassen und dafür vom heiligen holländischen 4-3-3-System abgewichen ist, hat ihm in seiner Heimat viel Kritik eingetragen; von Polder-Catenaccio war damals die Rede. Doch der Erfolg gab van Gaal recht.

Das Land ist durchdrungen von der Sehnsucht nach offensivem und wagemutigem Fußball. Van Gaal war es auch. Früher. Mit Barcelona hat er gegen den FC Valencia mal zur Pause 3:0 geführt. Seinem damaligen Naturell entsprechend ließ er in der zweiten Hälfte einfach munter weiter stürmen – Barca verlor 3:4.

So etwas würde ihm heute nicht mehr passieren. „Er denkt anders über den Fußball“, sagt Willem Vissers. „Früher war er ein sehr idealistischer Trainer, der von der Ajax-DNA geprägt war. Inzwischen ist er viel realistischer geworden. Du musst gewinnen. Das zählt.“

Van Gaal ist lockerer geworden, im Umgang mit den Spielern, aber auch mit seinen speziellen Freunden von der Presse.

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Seit van Gaals Rückkehr auf die Trainerbank hat die Elftal, die an diesem Montag gegen Senegal in die WM startet (17 Uhr, live im ZDF), noch kein einziges Mal verloren. In fünfzehn Spielen sprangen elf Siege und vier Unentschieden, unter anderem gegen Deutschland, heraus. „Ich denke, dass diese Gruppe weiter ist als die von 2014“, sagt van Gaal. Die Qualität in der Abwehr und im Mittelfeld sei höher.

Dafür fehlt es – anders als in Brasilien mit Arjen Robben und Robin van Persie – an Topspielern in der Offensive. Zumal Memphis Depay, der beste Torschütze des Teams, nach langer Verletzungspause laut van Gaal zum WM-Auftakt noch nicht für die Startelf in Frage kommt.

„Ich glaube nicht, dass wir die besten Spieler haben“, sagt Hollands Bondscoach. „Ich glaube an Teambuilding und Taktik, aber wir brauchen auch Glück.“

Van Gaal sei lockerer geworden, findet Willem Vissers von „De Volkskrant“. Im Umgang mit den Spielern, aber auch mit seinen speziellen Freunden von der Presse. Nur seine Vision vom Fußball, die sei immer gleichgeblieben, sagt Vissers: „Das Team ist größer als der Einzelne. Wer sich dem Team nicht unterordnen kann, der hat bei ihm nichts zu suchen.“

Tim Krul gehört diesem Team in Katar nicht an. Er wollte im September nicht an den Tests teilnehmen, für die van Gaal ihn eingeladen hatte. Einen Elfmeterkiller hat der Bondscoach trotzdem in seinem Aufgebot.

Welcher der drei Torhüter das ist, das hat er bisher nicht verraten. Es reicht zu wissen, dass es ihn gibt. „Dann ist die Anspannung für die Gegner größer“, sagt Louis van Gaal.

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