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Der Kontakt zu Fußgängern hielt sich bei unserem Autor meistens in Grenzen, außer in den ungemütlichen Wintermonaten.

© David Hutzler/dpa

Radkolumne „Abgefahren": Altersmilde gegenüber der Klingel

Nach seinem Selbstversuch als Fußgänger entschied sich unser Kolumnist nun doch für eine Fahrradklingel. Besonders für die Klingeltöne bekommt er viele Fans.

Michael Wiedersich ist Sportjournalist und Radsporttrainer. Hier schreibt er im Wechsel mit Läuferin Jeannette Hagen.

Eines der unterschätztesten Bauteile am Fahrrad ist die Klingel. Dabei gibt es sie schon seit 1877. Der Brite John Richard Dedicoat gilt als Erfinder des kleinen Warninstruments. Laut Straßenverkehrsordnung müssen „Fahrräder und Schlitten mit mindestens einer helltönenden Glocke ausgerüstet sein“. Wer sie nicht dran hat, kann im Fall einer Kontrolle sogar mit einem Bußgeld von 15 Euro rechnen. Trotzdem fehlt sie an fast jedem Rennrad, Mountainbike oder Cyclocrosser.

Auch mir war ein Signalhorn am Rad bis vor kurzem ziemlich egal. Seit über 40 Jahren bin ich sehr gut ohne sie ausgekommen. Auf der Straße hört sie eh kein Autofahrer. Unter Radfahrern gibt es kaum Probleme mit der Kommunikation. Und der Kontakt zu Fußgängern hielt sich bei mir meistens in Grenzen, außer in den Wintermonaten. Dann verlagert sich das Radsport-Training mehr in den Wald und trifft dabei öfters auf den einen oder anderen Wanderer. Insgesamt reichte bisher zur Aufmerksamkeitssteigerung meist meine Stimme, die ich je nach Gefahrenlage in ihrer Intonation, Lautstärke und Wortwahl entsprechend anpassen kann. Wenn das Mitführen der Klingel am Rad thematisiert wurde, konterte ich geschickt mit einem Bouquet an Vorurteilen. Optisch eine Katastrophe, Platzmangel am Lenker und über das Thema Aerodynamik möchte man gar nicht erst reden.

Vor einigen Wochen setzte ein Umdenken bei mir ein. Vielleicht ist es auch eine Art Altersmilde der ungeliebten Klingel gegenüber. Anlass war mein Selbstversuch als Fußgänger, wie kürzlich an dieser Stelle beschrieben. Als Fazit überlegte ich, mir vielleicht doch einmal eine Klingel zuzulegen. Die Leser*innen verstanden dies offenbar als verzweifelten Hilferuf, denn ich bekam daraufhin haufenweise Vorschläge für eine vernünftige Fahrradbimmel. Darunter war von der Hupe bis zum edlen Design-Stück mit langem Nachhall alles vertreten, was der Markt hergibt.

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Nach eingehender Recherche entschied sich unser Kolumnist für etwas Elektronisches

© Michael Wiedersich

Nach eingehender Recherche entschied ich mich für etwas Elektronisches. Mein neues rotes Schmuckstück verfügt über drei vorprogrammierte Klingeltöne: Hupe, Trillerpfeife und Stakkato-Trillern. Ganz gesetzeskonform ist dieser Signalgeber wohl nicht. Aber seit ich sie benutze, habe ich nur noch Freunde unter den Wanderern. Besonders viele Fans bekam ich bisher für das vogelähnliche Trillern. Die Spaziergänger erschrecken sich deutlich weniger. Dafür schauen sie nun immer erst einmal nach oben und suchen den plötzlich aufgeregt zwitschernden Vogel. Wenn sie dann jedoch meine Klingel und mich auf dem Rad bemerken, treten sie freundlich grüßend zur Seite und freuen sich über den ungewöhnlichen Ton.

Die nächste Bewährungsprobe für mein neues Lieblingsteil am Rad gibt es schon heute Abend. Da man die bösen Geister in diesem Jahr nicht großartig mit allerhand Feuerwerk vertreiben sollte, werde ich ihnen anders auf den Zahn fühlen. Um Mitternacht entlocke ich meiner Klingel alle Töne und spiele dabei auch noch „Bicycle Race“ von Queen in voller Lautstärke ab. Die bösen Geister werden total überrascht sein und flüchten. Hoffentlich nehmen sie dann das Virus gleich mit. In diesem Sinne, ein frohes neues Jahr für alle.

Michael Wiedersich

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