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Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgericht.

© dpa/Uli Deck

Union geht nach Karlsruhe: Die Wahlrechtsreform wird gleich doppelt verhandelt

Kein Ende der Turbulenzen: Die Reform der Ampel-Koalition landet beim Verfassungsgericht. Die Richter wollen auch das Verfahren zum bisherigen Wahlgesetz weiterverfolgen.

Die Unions-Fraktion im Bundestag hat sich am Dienstag dazu entschieden, gegen die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition in Karlsruhe zu klagen und auch einen Eilantrag einzureichen. Damit wird - eine kuriose Situation - das Wahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht quasi im Doppelpack verhandelt. Denn das Gericht hat am Dienstag eine auf den ersten Blick sehr ungewöhnliche Entscheidung getroffen. Der Zweite Senat lehnte einen Antrag von Klägern ab, ihre Klage nicht zu verhandeln und das Verfahren ruhen zu lassen.

Der Antrag kam von den Fraktionen der Grünen, der FDP und der Linken im Bundestag. Sie hatten 2021 beim Gericht ein so genanntes Normenkontrollverfahren beantragt, und zwar gegen das bis vor einigen Tagen geltende Wahlgesetz, das Union und SPD 2020 gegen die Stimmen der damaligen Opposition beschlossen hatten.

Da die Ampel-Koalition mittlerweile ein Reformgesetz vorgelegt und am 17. März im Bundestag beschlossen hat, erschien den drei Fraktionen der Klagegrund verschwunden zu sein. Die angegriffenen Bestimmungen im alten Gesetz seien damit gegenstandslos. Es bestehe daher vorläufig kein Interesse mehr daran, das Verfahren weiter zu verfolgen.

Der Zweite Senat sieht das anders. Mit einer bemerkenswerten Begründung: „Ist das Verfahren durch den Antrag in Gang gesetzt, kommt es für dessen weiteren Verlauf nicht mehr auf die Anträge und Anregungen des Antragstellers, sondern ausschließlich auf Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses an“, heißt es in der Begründung der Richter.

Es besteht ein erhebliches Interesse an der Feststellung, ob die Abgeordneten auf verfassungsgemäßer Grundlage gewählt worden sind.

Begründung der Richter

Dieses öffentliche Interesse sehen die Richter schon allein dadurch gegeben, dass der aktuelle Bundestag über das alte Wahlgesetz bestimmt wurde. Es bestehe ein „erhebliches Interesse“ an der Feststellung, ob die Abgeordneten „auf verfassungsgemäßer Grundlage gewählt worden sind“.

Dazu kommt, dass der Bundestag im vorigen November beschlossen hat, dass die Bundestagswahl vom 26. September 2021 in Berlin teilweise zu wiederholen sei. Diese Wahl müsse aber nach dem alten Wahlgesetz erfolgen. Ergo: Auch deswegen sieht das Gericht ein großes öffentliches Interesse an einer Fortsetzung des Verfahrens. 

Parallele Verfahren

Außerdem habe das Gericht eine mündliche Verhandlung angesetzt, das Verfahren sei also fortgeschritten. Diesen mündlichen Termin hat das Gericht für den 18. April angesetzt – und zwar am 2. März, also mitten im Gesetzgebungsverfahren für den von der Ampel im Januar vorgelegten Reformentwurf.

Dieses Gesetzgebungsverfahren läuft trotz der Zustimmung im Bundestag noch einige Monate. Im Bundesrat ist es voraussichtlich erst im Mai auf der Tagesordnung. Dann ist der Bundespräsident dran: Frank-Walter Steinmeier muss das Gesetz ausfertigen und zuvor prüfen, ob es dem Grundgesetz entspricht.

Frank-Walter Steinmeier muss das Gesetz ausfertigen und zuvor prüfen, ob es dem Grundgesetz entspricht.

© dpa/Wolfgang Kumm

Union und Linke, die das Gesetz im Bundestag abgelehnt haben, appellieren an den Präsidenten, sich ihren verfassungsrechtlichen Bedenken anzuschließen. Im Übrigen haben sie Klage in Karlsruhe angekündigt. Damit lägen also irgendwann beide Wahlgesetze zur Prüfung in Karlsruhe, je nachdem, wie lange der Zweite Senat mit der Entscheidung zum nicht mehr geltenden Wahlgesetz braucht.

Das Problem der Normenklarheit

Doch wie kommt es zu dieser ungewöhnlichen Situation? Ein Blick in die Fragengliederung zur mündlichen Verhandlung kann ein Hinweis sein. Die Klage gegen das bisherige Wahlgesetz ist vor allem damit begründet worden, dass es gegen das Gebot der „Normenklarheit“ verstoße, zudem gegen die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien.

Es geht also um die fundamentalen Elemente des Wahlrechts. Ähnlich grundsätzlich dürfte der Klagegrund auch in den geplanten Klagen gegen das neue Ampel-Wahlgesetz ausfallen. So kann es durchaus sein, dass das erste Verfahren Folgen für das zweite hat. Die Fortsetzung des von Grünen, Linken und FDP angestrengten Verfahrens gibt dem Gericht in jedem Fall Gelegenheit, ebenfalls grundsätzlich zu werden. Die Forderung nach Normenklarheit  – nicht zuletzt Verständlichkeit und Folgerichtigkeit eines Gesetzes – hat schon in früheren Karlsruher Urteilen zum Wahlrecht eine große Rolle gespielt.

Ein Richter im Mittelpunkt

Für das Wahlrecht ist nach der Geschäftsverteilung im Zweiten Senat Peter Müller zuständig. Er ist damit sozusagen der Leitwolf bei diesem Thema, er hat als Berichterstatter etwas mehr Einfluss auf Entscheidungen als die Kollegen und Kolleginnen, auch wenn ein Urteil immer eine Gemeinschaftssache aller Senatsmitglieder ist.

Für das Wahlrecht zuständig: Bundesverfassungsrichter Peter Müller.

© dpa/Uli Deck

Der frühere CDU-Politiker war einst Ministerpräsident im Saarland, als Verfassungsrichter wirkt er seit 2011. Seine Amtszeit endet im kommenden Dezember, das Vorschlagsrecht für die Nachfolge hat die Union. Das nunmehr fortgesetzte Verfahren gegen das bisherige Wahlrecht könnte seine letzte Möglichkeit sein, Einfluss auf die Rechtsprechung zum Wahlrecht zu nehmen.

Andererseits muss sich der Senat bei einer Klage von Union und Linken gegen das Ampel-Wahlgesetz wohl beeilen – denn die nächste Bundestagswahl ist im Herbst 2025, ein eventuelles Urteil müsste früh im Jahr 2024 fallen, denn dann beginnen die Aufstellungsverfahren der Parteien für Direktkandidaten und Listen.

Bayern will auf jeden Fall klagen

Klageberechtigt sind neben dem Bundestag (die Unterschriften eines Viertels seiner Mitglieder ist nötig) auch die Landesregierungen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat schon angekündigt, einen Antrag auf Normenkontrolle zu stellen und sogar schon die Klagevertreter benannt. Das sind die Rechtsprofessoren Markus Möstl (Bayreuth) und Kyrill Schwarz (Würzburg).

Die Unions-Fraktion im Bundestag, die allein mehr als das Viertel der Abgeordneten hat, hat sich nun auich für einen Vorstoß in Karlsruhe entschieden. Die Angebote aus der Ampel, mit denen zumindest ein potenzieller Klagegrund abgewehrt werden soll, verfingen nicht.

Kritikpunkt Grundmandatsklausel

Es geht um die Grundmandatsklausel: Die Regelung, dass drei Direktmandate einer Partei den Einzug in den Bundestag garantieren, wenn sie beim Zweitstimmenanteil an der Fünfprozenthürde gescheitert ist, wurde von der Ampel abgeschafft. Damit wäre die Linke 2021 nicht in den Bundestag gekommen. Die CSU wäre knapp dran gewesen am Scheitern. Sie erhielt damals bundesweit 5,2 Prozent.

Aus der SPD gibt es nun den Vorschlag zum Ausgleich die Zugangshürde auf vier Prozent abzusenken. Zudem schlugen Ampel-Politiker vor, Parteien eine Zählgemeinschaft bei Bundestagswahl zu ermöglichen. Dann könnten sich CDU und CSU quasi zusammentun, die CSU würde wie ein bayerischer Landesverband der CDU behandelt.

Der CDU-Wahlrechtsexperte Ansgar Heveling sagte dazu dem Tagesspiegel: „Was aus der Koalition vorgeschlagen wird, wirkt wie eine nachträgliche Notoperation.“ Es seien auch keine konsistenten Vorschläge. „Sie ändern nichts an den grundsätzlichen Problemen, die wir beim Wahlgesetz der Ampel sehen.“

Die Lage wird nun allerdings zunehmend kurios: Union, Grüne und FDP sind in den beiden Verfahren mal Beklagte, mal Klägerinnen, die SPD wird zweifach beklagt, die Linke klagt zweifach. Die AfD schaut zu.

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