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Auch in Argentinien protestieren die Menschen gegen das kommunistische Regime auf Kuba.

© Matias Baglietto/Reuters

Zeiten des Zorns in Südamerika: Hier sind ganze Nationen den Launen einzelner Figuren ausgeliefert

Vom kommunistischen Kuba bis zum rechts regierten Kolumbien werden Lateinamerikas Gesellschaften von Unruhen erschüttert. Wie konnte es dazu kommen?

Schnellen Schrittes kommen einige Hundert Männer die Straße entlang. Viele schwingen Knüppel, andere tragen kubanische Fahnen. Ihr Ziel ist ein Park im Zentrum von Havanna, wo eine Demonstration gegen das kommunistische Inselregime stattfindet. Die Männer, offenbar Mitglieder der Kommunistischen Partei, wollen die Demonstranten auseinandertreiben.

Die Handyaufnahmen, die über Twitter verbreitet wurden, stammen vom vergangenen Sonntag, als in Kuba die größten Anti-Regierungs-Proteste seit 1994 ausbrachen. Auslöser waren die immer häufigeren Stromausfälle sowie der Mangel an Lebensmitteln. An beiden sind sowohl das verschärfte US-Embargo als auch die ineffiziente kubanische Planwirtschaft schuld.

Zugleich gerieten in einigen Provinzen des Landes die Krankenhäuser durch die Zunahme schwerer Covid-19-Fälle an den Rand ihrer Kapazitäten. Zu alldem kam die generelle Unzufriedenheit der Menschen über ein System, dass sie bewusst in Unmündigkeit hält und gerade jungen Kubanern Entfaltungsmöglichkeiten verweigert.

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Schnell machte die kubanische Führung klar, dass sie eine Ausweitung der Proteste nicht dulden wird. Sie ließ das Internet blockieren, schickte Spezialeinheiten auf die Straßen und mobilisierte Bürgermilizen. Zudem ließ sie rund 5000 Menschen festnehmen, wie das oppositionelle Internetportal „14ymedio“ meldet, das die Internetsperre über einen VPN-Server umgeht. Der Protest sollte schon im Keim erstickt werden.

Der kubanische Konflikt ist nicht der einzige, der Lateinamerika derzeit bewegt. Auch in anderen Ländern der Region kommt es zu Unruhen, es gibt Spannungen und Gewalt zwischen Regierung und Opposition. Beispiele sind Nicaragua und Venezuela, deren Führungen sich als sozialistisch verstehen; aber auch das rechts-konservativ geführte Kolumbien ist betroffen.

Eine Region mit extremer wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit

In Peru, wo der marxistische Lehrer und Bauernsohn Pedro Castillo die Präsidentschaftswahlen im Juni hauchdünn gewann, wurden die tiefen Gräben zwischen der armen Landbevölkerung und wohlhabenden Städtern deutlich. In Brasilien wiederum stehen sich die Gegner und Anhänger des ultra-rechten Präsidenten Jair Bolsonaro unversöhnlich gegenüber. Während die Opposition die Absetzung Bolsonaros wegen 530.000 Corona-Toten fordert, droht dieser mit einem Putsch.

Für die ständige Unruhe Lateinamerikas gibt es historische Gründe. Die Region ist seit der Kolonialisierung durch die Spanier und Portugiesen von extremer Ungleichheit geprägt. In fast allen Ländern herrschen bis heute quasi-feudale Verhältnisse: Eine Elite aus wenigen Familien dominiert Wirtschaft, Finanzen, Grund und Boden sowie die Politik, während es dem Großteil der Bevölkerung an Bildung, Land, Kapital und Möglichkeiten fehlt.

Diese eklatante Ungerechtigkeit provoziert andauernde Verteilungskämpfe sowie politische Instabilität und macht Lateinamerika zur gewalttätigsten Region der Welt. Hinzukommen antiquierte Präsidialsysteme, die ganze Nationen den Launen einzelner Figuren ausliefern und anfällig sind für diktatorische

In Kuba gingen Zehntausende auf die Straße, um gegen das Regime zu protestieren.
In Kuba gingen Zehntausende auf die Straße, um gegen das Regime zu protestieren.

© Chandan Khanna/AFP

Nun hat die Corona-Pandemie noch einmal wie im Brennglas gezeigt, wie prekär die Lebensverhältnisse vieler Lateinamerikaner sind – und wie schlecht einige Staaten aufgestellt sind. Keine andere Weltregion wurde härter von Covid getroffen. Die Todesrate in Lateinamerika ist achtmal höher als im Rest der Welt. Nirgends sind auch die ökonomischen Folgen drastischer, was daran liegt, dass ein Großteil der Menschen im informellen Sektor arbeitet, also ohne jede Absicherung.

Die Pandemie war ein Katalysator für die ohnehin existierende Unzufriedenheit. Besonders groß ist diese wohl in Venezuela. Rund 5,6 Millionen der rund 30 Millionen Venezolaner haben in den vergangenen Jahren ihr Land verlassen, um der zunehmenden Armut, der miserablen Gesundheitsversorgung und der steigenden Kriminalität zu entkommen.

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Wie explosiv die Situation im Land ist, wurde klar, als sich am Wochenende in Caracas schwer bewaffnete Banden aus den Armenvierteln Gefechte mit der Polizei lieferten. Mindestens 22 Kriminelle und vier Polizisten wurden getötet. Die Polizei beschlagnahmte mehr als 20.000 Schuss Munition, Raketenwerfer und Sturmgewehre.

Präsident Nicolás Maduro nutzte derweil die Pandemie, um Oppositionelle verfolgen zu lassen. Die Polizei ging gegen Journalisten, Anwälte und sogar Angestellte im Gesundheitssystem vor, die sich kritisch geäußert hatten.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) listet in einem Report 162 Fälle von Misshandlungen allein im vergangenen Jahr auf. „In Venezuela kannst du keine regimekritische Whatsapp-Nachricht mehr verschicken, ohne Angst vor Verfolgung haben zu müssen", sagte José Miguel Vivanco, Amerika-Direktor von HRW.

In Nikaragua stützt sich der Machthaber auf Terror

Vor wenigen Tagen drangen dann schwerbewaffnete Sicherheitskräfte in das Haus von Oppositionsführer Juan Guaido in Caracas ein und bedrohten ihn. Kurz zuvor war seine Nummer Zwei, Freddy Guevara, aus dem Auto heraus verhaftet worden. Ihm werden „Terrorismus“, „Verrat“ und „Angriffe auf die Verfassung“ vorgeworfen.

Nur durch Terror hält sich auch Nicaraguas starker Mann Daniel Ortega an der Macht. Bereits 2018 ließ er Proteste gegen sein Regime brutal niederschlagen, wobei 325 Menschen getötet wurden. Nun hat er die fünf aussichtsreichsten Oppositionskandidaten für die Präsidentschaftswahl am 7. November festnehmen lassen. Außerdem wurden Verfahren gegen ein Dutzend prominente Regierungskritiker eingeleitet.

Corona trifft Südamerika hart, allein in Brasilien gibt es bisher mehr als 500.000 Tote zu beklagen.
Corona trifft Südamerika hart, allein in Brasilien gibt es bisher mehr als 500.000 Tote zu beklagen.

© Bruno Kelly/Reuters

Wie Venezuela ist Nicaragua damit auf dem direkten Weg in die Einparteienherrschaft. Präsident Daniel Ortega, der 1979 als Anführer der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) Diktator Somoza stürzte, gleicht damit dem Schwein Napoleon aus George Orwells Parabel „Farm der Tiere“: Der einstige Befreier ist zum Unterdrücker geworden.

Die heftigsten Auseinandersetzungen erlebte jedoch Kolumbien. Die Regierung des rechten Präsidenten Iván Duque reagierte besonders brutal auf die Proteste, die das Land im Mai und Juni erschütterten. Mindestens 43 zumeist junge Menschen wurden laut der Internetseite „Statista“ von Polizisten getötet.

Die Konflikte werden nicht abebben

Es gab zwei Dutzend Fälle, in denen Frauen von Beamten sexuell missbraucht wurden. Rund 1500 Menschen wurden willkürlich festgenommen, fast 200 mal schossen die Beamten scharf, rund 50 Menschen verloren ein Auge durch Gummigeschosse.

Ausgelöst wurden die Proteste von einer Steuerreform, die vor allem die Armen hart getroffen hätte. Kolumbiens Regierung wollte den Haushalt des Landes sanieren, nachdem das Inlandsprodukt in der Pandemie um fast sieben Prozent geschrumpft war.

Obwohl die Regierung ihre Pläne fallen ließ, dauerten die Proteste an, die sich gegen Polizeigewalt, soziale Ungleichheit sowie die Morde an sozialen Aktivisten im ganzen Land richteten, die von Todesschwadronen verübt werden. Lateinamerikas Konflikte, so viel ist klar, werden nicht abebben, solange die sozialen Gräben tiefer werden und sich diktatorische Tendenzen verstärken.

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