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Bauarbeiter arbeiten am Lusail-Stadion, einem der Stadien der WM 2022.

© Foto: dpa/AP/Hassan Ammar

Wie viele Gastarbeiter starben wirklich?: „Natürlich nutzt Katar diese Zahlen, um von den eigenen Fehlern abzulenken“

In wenigen Tagen startet die Fußball-WM in gigantischen Stadien, die hauptsächlich von Gastarbeitern errichtet wurden. Wie viele von ihnen dabei starben, ist umstritten. Ein Überblick.

Wenn am Sonntag 17.00 Uhr deutscher Zeit die Nationalmannschaften von Gastgeber Katar und Ecuador im Al-Bayt-Stadion vor 60.000 Zuschauern die Fußballweltmeisterschaft eröffnen, dann ist das neben allen geopolitischen Interessen, die der Wüstenstaat mit dem Turnier verfolgt, auch eine Demonstration des eigenen Reichtums – und damit der Macht.

Für über 6,5 Milliarden Dollar sind glänzende neue und klimagekühlte Stadien entstanden, für weitere 36 Milliarden Dollar bringen fahrerlose U-Bahnen die Menschen an fünf der acht Austragungsorte.

Auch die Straßenlaternen in Form von Palmen sowie riesige Fußballer-Porträts an hochmodernen Hochhausfassaden sollen den ausländischen Fans bei der Anreise klarmachen: Die erste Fußball-Weltmeisterschaft in einem arabischen Land wird unvergesslich.

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Die Gesamtinvestitionen des Emirats in die Infrastruktur, seit es 2010 den Zuschlag für die Fußball-WM erhalten hat, werden auf bis zu 300 Milliarden Dollar geschätzt.

Um die gigantischen Infrastrukturprojekte zu stemmen, lockte Katar Tausende Gastarbeiter insbesondere aus dem asiatischen Raum auf seine Baustellen. Einem Ruf, dem viele Menschen aufgrund der im Vergleich zu ihrer Heimat höheren Löhne folgten.

Spätestens aber seit einem Bericht der britischen Zeitung „The Guardian“ aus dem Jahr 2021, demzufolge schätzungsweise 6500 Gastarbeiter im Zeitraum von 2010 bis 2019 ums Leben gekommen sein sollen, steht das Emirat mit Scheich Tamim bin Hamad Al Thani an der Spitze noch stärker in der Kritik als zuvor.

Mittlerweile kursieren weitere Zahlen zu den auf den Baustellen umgekommenen Gastarbeitern: Sie reichen von drei bis 15.000. Wie aber kommen die Zahlen zustande und wie sind sie zu bewerten?

Die Rechnung der Fifa

Durch besondere Integrität fiel der Weltverband Fifa in den vergangenen Jahren nicht gerade auf. Wenig überraschend hält sich Verbandschef Gianni Infantino auch beim Thema Gastarbeiter strikt an die Zahlen des katarischen WM-Organisationskomitees.

Demnach seien lediglich drei Gastarbeiter auf WM-Baustellen durch Arbeitsunfälle ums Leben gekommen. Weitere 37 Todesfälle werden als „Non-Work-Related Deaths“ gelistet – also Personen, die nicht im bei der Arbeit verstarben. Zu den 37 Fällen zählen jedoch beispielsweise auch zehn Gastarbeiter, die laut den Berichten des WM-Komitees entweder während ihrer Schicht oder kurz nach ihrer Rückkehr auf ihr Zimmer kollabierten.

Fifa-Präsident Gianni Infantino und Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, Emir von Katar, zu Beginn der WM-Auslosung im April 2022
Fifa-Präsident Gianni Infantino und Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, Emir von Katar, zu Beginn der WM-Auslosung im April 2022

© Foto: dpa/Christian Charisius

Es sei wichtig zu verstehen, was die Formulierung „verstorbene Menschen auf WM-Infrastrukturbaustellen“ bedeute, sagt Sebastian Sons von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Er beschäftigt sich seit längerem intensiv mit der Menschenrechtslage im Emirat, auch im Kontext der WM.

„Insgesamt wurden nur zwei Prozent aller Gastarbeiter in Katar auf den WM-Baustellen eingesetzt, daher greift die von der Fifa kommunizierte Zahl zu kurz“, sagt er.

All diejenigen Gastarbeiter, die beim Bau der Metro, im Straßenbau oder als Hausangestellte zu Tode kamen, werden von den Zahlen der WM-Organisatoren nicht erfasst. „Dass diese Zahlen von Katar dafür genutzt werden, um von den eigenen Fehlern abzulenken, liegt natürlich nahe“, meint Sons.

6500 oder gar 15.000 gestorbene Gastarbeiter?

Wie aber steht es um die vom „Guardian“ ermittelte Zahl von 6500? Die Recherche der britischen Zeitung stützt sich auf die insgesamt verstorbenen Personen in Katar aus fünf südostasiatischen Ländern zwischen 2010 und 2019. Allerdings wurden dabei weder die Jobs noch die Arbeitgeber ermittelt. „Man weiß nicht, ob diese Menschen auf den WM-Baustellen starben oder nicht“, erklärt Sons.  

Dass sich nicht nachweisen lässt, wo und wie viele Menschen aufgrund ihrer Arbeit in Katar ums Leben kamen, liegt vor allem am Emirat selbst. Systematische Daten wurden im Zeitraum von 2010 bis 2019 laut dem Leiter des Büros der Internationalen Arbeitsorganisation in Doha, Max Tuñón, nicht erhoben, wie er im Interview mit dem „Spiegel“ erklärte.

Bekannt ist lediglich, dass in besagtem Zeitraum insgesamt 15.000 Menschen, die nicht aus Katar stammten, im Emirat verstarben. „Die Aussage, 15.000 Menschen seien im Zuge der WM in Katar gestorben, ist somit falsch“, sagt DGAP-Experte Sons.

Wie hoch die Sterberate unter den Immigranten lag, ist nicht bekannt. Katars Regierungspressestelle erklärte im vergangenen Jahr jedoch als Reaktion auf den Bericht des „Guardian“, dass die Sterberate unter den Einwanderern aus den besagten südostasiatischen Ländern in einem Bereich liege, der für die Größe und die demografische Zusammensetzung der Bevölkerungsgruppe zu erwarten sei.

So hitzig die Diskussion über die exakte Zahl der verstorbenen Gastarbeiter im Vorfeld der WM geführt wird, endgültig klären lässt sie sich nicht. Auch deswegen verweist Sons auf ein aus seiner Sicht dringlicheres Problem.

Wir sprechen hier in den meisten Fällen von gesunden und jungen Männern in ihren 20ern oder 30ern.

Sebastian Sons, Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik

„Bei 70 Prozent der Sterbefälle von Gastarbeitern wurde die Todesursache nicht aufgeklärt oder die katarischen Behörden führten ‚natürliche Todesursachen‘ oder ‚Herzstillstände‘ als Grund an“. Er bezieht sich dabei auf einen Bericht der Organisation „Amnesty International“ aus dem vergangenen Jahr.

Für den DGAP-Experten ist das verdächtig, „denn wir sprechen hier in den meisten Fällen von gesunden und jungen Männern in ihren 20ern oder 30ern“, sagt Sons. Bei einem genaueren Blick auf die Zahlen erkenne man zudem eine Korrelation zwischen den besonders heißen Monaten im Jahr und einem Anstieg der Todeszahlen.

Tatsächlich wirkt es kaum nachvollziehbar, warum ein Land wie Katar, das jährlich Milliarden in sein Gesundheitssystem investiert, nicht in der Lage sein sollte, Todesursachen genau zu bestimmen.

In Katar hat der Emir unterdessen genug von den Vorwürfen aus dem Westen. Kurz vor Turnierbeginn verschärft sich der Ton. Scheich Al Thani sprach von einer „beispiellose Kampagne“ gegen sein Land. Gegen Katar würden „Verleumdungen“ verbreitet, es werde mit „Doppelmoral“ behandelt.

„Der Emir möchte vor allem seinen eigenen Landsleuten signalisieren, dass man stolz auf dieses Turnier sein kann und man sich die Kritik aus dem Westen nicht uneingeschränkt gefallen lässt“, sagt Sebastian Sons dazu. Und bei den 300.000 Kataris komme das gut an. (mit Agenturen)

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