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Der russische Angeklagte Wadim Sch. im Gespräch mit seiner Übersetzerin.

© Natacha Pisarenko/dpa

Urteil im Kiewer Prozess gegen russischen Soldaten: Die juristische Aufarbeitung des Krieges hat erst begonnen

Natürlich gehört vor allem der Aggressor Putin vor Gericht. Aber auch die Straftaten einfacher Soldaten müssen geahndet werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Auf die Kleinen gehen sie los, die Großen kommen davon. So wird gern geurteilt über Urteile wie dieses. Lebenslang soll ein russischer Soldat in Haft, das befand am Montag ein Gericht in Kiew beim ersten Kriegsverbrecherprozess in der Ukraine.

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Wadim Sch., 21 Jahre alt, hat gestanden, Ende Februar auf einer Dorfstraße im Osten der Ukraine einen Radfahrer erschossen zu haben, einen 62 Jahre alten Zivilisten. Wadim Sch. zeigte Reue vor Gericht. Ja, er hätte den Schießbefehl seines Fähnrichs verweigern müssen. Fünf Mann seiner Panzerkolonne hatten ein Auto gestohlen, um damit aus dem Gefecht zu flüchten, der Radfahrer war Zeuge. Er hat zum Mobiltelefon gegriffen, der Soldat zur Kalaschnikow. Danach hat sich Wadim Sch. freiwillig in Kriegsgefangenschaft begeben.

Der junge Mann stammt aus der sibirischen Region Irkutsk, rund 6000 Kilometer von der Ukraine entfernt. Was dort sein Auftrag sein würde, dürfte er kaum genau erfasst haben, aber dass es Unrecht war, auf einen unbewaffneten Zivilisten zu schießen, wird ihm dennoch klar gewesen sein.

Wadim Sch. und seine Gruppe wollten einen Zeugen beseitigen, ihre Tat vertuschen, und haben das Gegenteil erreicht. Jetzt bekam die Weltöffentlichkeit mit, was geschehen war – und sie bekam den ersten Angeklagten in einem Prozess um russische Kriegsverbrechen im Ukrainekrieg zu sehen: jung, unerfahren, kahl geschoren.

Kommen die Großen davon?

Auf die Kleinen gehen sie los, die Großen kommen davon? Im Krieg also: Je weiter unten in der Befehlskette, desto eher wird einer habhaft gemacht? Wadim Sch. wirkt wie ein Sündenbock, dessen Los den alten Spruch bestätigt. Seine Tat war ein Verbrechen innerhalb eines Verbrechens, denn Angriffskrieg an sich ist ein Straftatbestand des Völkerrechts.

Vor allem müsste also der primäre Aggressor vor Gericht stehen, doch ist es derzeit offen, ob es je dazu kommt. Russlands Präsident Wladimir Putin weiß, warum er „Spezialoperation“ sagt anstatt „Krieg“. Im Krieg wäre Putin Oberbefehlshaber der Armee, verantwortlich für den Verlauf des Krieges und auch für die Achtung vor dem humanitären Völkerrecht.

Wenn Führungskräfte Unrecht zu Recht erheben, werden Straftaten begünstigt.

Just dieses steht den Zielen und Methoden im Weg, die Putins Terror verfolgt, wenn er Häuser, Kliniken, Schulen oder Theaterbauten mit Artillerie beschießen lässt und Mörder von Zivilisten mit Orden auszeichnet. Dass Zivilisten und Kulturgüter zu schonen sind, ist internationales Wissen aller Streitkräfte, es gilt für alle Armeen.

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Wo in bewaffneten Konflikten Gesetzlosigkeit zur Gewohnheit wird, und wo durch die Führungskräfte selbst Unrecht zu Recht erhoben wird, da entwickelt sich in Armeen ein Klima, das umso eher Straftaten wie jene von Wadim Sch. und dessen Einheit begünstigt.

Das humanitäre Völkerrecht in bewaffneten Konflikten gilt international, es gilt auf allen Führungsebenen, ob zivil oder militärisch. Auch in Putins Armee weiß man: Es stellt weltweit die zentrale Dienstvorschrift, die verbindliche Grundlage für Streitkräfte dar. Dass dieser Rechtsbereich überhaupt entstand, verdankt sich ungezählten Kriegsverbrechen, die unaufgeklärt oder ungesühnt blieben.

Viele weitere Prozesse gegen Kriegsverbrecher oder Kriegsgefangene soll es in der Ukraine wie in Russland geben, eine Reihe davon wird längst vorbereitet. Die Mutter von Wadim Sch. soll an Putin geschrieben haben, dass sie ihren Sohn wiederhaben möchte. Auf dem empathischen Ohr scheint die aktuelle russische Führung taub, Antworten sollen die Eltern von Soldaten selten erhalten.

Dass Wadim Sch. tatsächlich den Rest seines Lebens in Haft verbringen wird, ist noch nicht gesagt. Beim Aggressor wie bei den Attackierten mehrt sich in diesem Krieg die Zahl der Gefangenen. Sie sind Pfänder und Geiseln, der Druck der Soldateneltern wird steigen. Die juristische Aufarbeitung des laufenden Krieges hat erst begonnen.

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