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Die ukrainischen Truppen haben einige Vororten Charkiws zurückerobert.

© Anatolii Stepanov/AFP

Ukraine erobert Vororte Charkiws zurück: Die Gegenoffensiven zeigen, wo es bei Russlands Angriff hakt

Dass die Ukraine die zweitgrößte Stadt des Landes hält, wird zunehmend zum russischen Problem. Das hat nicht nur mit der mangelhaften Logistik zu tun.

Vom Militärstützpunkt im russischen Belgorod nahe der ukrainischen Grenze ins rund 200 Kilometer entfernte Isjum am Rande des Donbass führt eigentlich kein Weg an der Metropole Charkiw vorbei. Wer vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine zügig durchkam, brauchte mit dem Auto weniger als drei Stunden.

Die deutlich weiter östlich verlaufende Ausweichroute misst nur 30 Kilometer mehr, allerdings dauert die Fahrt über teils unbefestigte Straßen deutlich länger. Auf diese Route sind die russischen Truppen mit ihren Konvois seit Wochen angewiesen. Denn: Für sie führt bislang nur dieser Weg an den ukrainischen Streitkräften in Charkiw vorbei.

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Das russische Ziel für den Beginn der Großoffensive im Donbass war klar: Charkiw erobern, um den schnellen Nachschub sicherzustellen. Der weite Umweg östlich der Stadt ist nicht nur aufgrund der Dauer und des Straßenausbaus beschwerlich, sondern die Kolonnen wurden dort auch bereits mehrmals Ziel von ukrainischen Luftangriffen, die von Charkiw aus gestartet wurden.

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Russlands Versuch, in die Stadt vorzudringen, zielte auch darauf ab, eben diese ukrainischen Luftangriffe auf die Kolonnen mittelfristig zu verhindern. Der andauernde russische Artilleriebeschuss aus dem Norden Charkiws sollte die Aufmerksamkeit der ukrainischen Streitkräfte während des Bodenangriffs dorthin lenken – wenn die Stadt schon nicht schnell eingenommen werden konnte.

Russland machte zu Beginn auch einige Fortschritte, drängte die Ukrainer mehrere Kilometer in die Metropole zurück und flog Dutzende Luftangriffe am Tag. „Die Lage in der Region Charkiw ist schwierig“, gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Fernsehansprache zu. „Aber unser Militär und unser Geheimdienst haben wichtige taktische Erfolge erzielt.“ Und dort beginnt der zweite Teil der Geschichte.

Die ukrainische Einschätzung teilt das US-Verteidigungsministerium, das von „bestenfalls minimalen Fortschritten“ spricht. Außerdem habe Russland „immer noch nicht alle logistischen Probleme gelöst“. Diese Probleme hängen maßgeblich mit den Problemen des Umwegs um Charkiw zusammen.

„In den letzten Tagen gab es also ein ständiges Hin und Her“, sagte der Pentagon-Vertreter in dieser Woche. Das ukrainische Militär habe die Russen weiter aus Charkiw zurückdrängen können. Die Russen seien zwar klar im „Offensivmodus“, aber nicht so erfolgreich wie erwartet. Der Pentagon-Vertreter betonte, dass all diese Entwicklungen nicht nur auf mangelnde russische Planung zurückzuführen seien. Die Ukrainer würden wirklich guten Widerstand leisten.

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So eroberten die ukrainischen Streitkräfte nach eigenen Angaben nördlich von Charkiw das strategisch wichtige Dorf Ruska Losowa zurück, das seit dem 24. Februar in russischer Hand war. Dem Verteidigungsministerium in Kiew zufolge brachten die Soldaten mehr als 600 Einwohner in Sicherheit.

Einer weiteren ukrainische Gruppe ist es dem US-Thinktank „The Study of War“ zufolge gelungen, die russischen Truppen nach der Rückeroberung Kutuziwkas nach Staryj Saltiw zurückzudrängen, 40 Kilometer außerhalb Charkiws. Dieser Ort liegt in unmittelbarer Reichweite der russischen Ausweichrouten Richtung Isjum. Sollte es den ukrainischen Truppen gelingen, dort Stellung zu beziehen, könnte das den russischen Nachschub erheblich erschweren.

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Schon jetzt hätten die Rückeroberungen zu einer dramatischen Verringerung der Luftangriffe auf Charkiw geführt, berichtet Oleh Synyehubov, der Gouverneur von Charkiw. Die Zahl der Raketeneinschläge sei von 50 bis 80 am Tag innerhalb einer Woche auf maximal fünf am Tag zurückgegangen. „Die erfolgreichen Gegenoffensiven im Norden der Stadt haben den Feind zurückgedrängt. In vielen Gegenden ist er nun außerhalb der Reichweite“, sagt Synyehubov dem „Wall Street Journal“.

Nur noch eine Achse, die in die Stadt führt, ist in russischer Hand – sie endet im Nordosten bei Tsyrkuny, 25 Kilometer außerhalb Charkiws. Allerdings startet die Ukraine auch hier Offensiven von Ruska Losowa und Kutuziwka aus.

Die Berichte der Menschen, die in den von Russland besetzten Gebieten um Charkiw leben, ähneln denen der Anfangszeit in der Region Cherson. Die Russen stellten schon zu Beginn des Einmarschs den Strom, Wasser und das Mobilfunknetz ab, die Menschen mussten unter freiem Himmel Feuer machen.

In manchen Vororten Charkiws öffnen Restaurants wieder

„Es waren zwei Monate schrecklicher Angst“, sagte die aus Ruska Losowa geflohene 28-jährige Natalia der Nachrichtenagentur AFP. „Wir waren zwei Monate lang in den Kellern ohne Essen“, erzählte der 40-jährige Swjatoslaw. Ein Bewohner der nahe gelegenen Ortschaft Slatyne, die ebenfalls von ukrainischen Truppen zurückerobert wurde, berichtete, dass 15 Menschen aus seinem Dorf getötet worden seien.

Am Wochenende wurden bei nächtlichem Artilleriebeschuss in der zweitgrößten Stadt der Ukraine ein Mensch getötet und fünf weitere verletzt. Und auch wenn die Russen die zurückeroberten Gebiete weiter beschießen, haben in manchen Vororten von Charkiw sogar die Restaurants und Shops wieder geöffnet.

Es scheint, als kehre erstmals seit Beginn des Krieges das Leben in diese Gebiete zurück. Die erfolgreichen Gegenoffensiven geben den Menschen vor Ort Zuversicht und zeigen, dass die Ukraine sich zu wehren weiß – und so auch die Eroberung des Donbass durchaus verhindern könnte.

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