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1Thomas de Maiziere, ehemaliger Innenminister, im Untersuchungsausschuss zum Anschlag am Breitscheidplatz.

© dpa/Fabian Sommer

Terroranschlag am Breitscheidplatz: De Maizière übernimmt Verantwortung

2016 hat ein IS-Anhänger den schwersten islamistischen Terroranschlag auf deutschem Boden verübt. Jetzt sagte der damalige Innenminister im Ausschuss aus.

Um den früheren Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist es still geworden, seitdem er im März 2018 aus dem Amt geschieden ist.

Jetzt hat den CDU-Abgeordneten eine der schwärzesten Stunden seiner Amtszeit eingeholt: Im Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz sollte de Maizière erklären, warum die Behörden, deren oberster Dienstherr er damals war, den Anschlag nicht verhindert haben.

„Ich selbst war vor dem Attentat mit dem Fall Amri als Minister nicht befasst“, sagt er im Ausschuss. Dennoch trage er für alles, was damals in seinem Geschäftsbereich passiert sei, die „volle Verantwortung“.

Abgeordnete im Ausschuss wollten auch wissen, wie de Maizière einen Monat nach dem Blutbad auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche zu der Aussage kam, außer dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sei keine Bundesbehörde mit der Sache befasst gewesen.

Der CSU-Abgeordnete Volker Ullrich sagte, de Maizière habe am 18. Januar 2017 in einer Innenausschuss-Sitzung gesagt, der Bund sei von dem Fall insbesondere über das Bamf betroffen gewesen, über seine Präsenz im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern und durch „eine kleine Rolle in Bezug auf das Verhalten der Bundespolizei in Baden-Württemberg“.

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Die Mitglieder des Ausschusses, der in Sitzungswochen seit Jahren, oft zwölf Stunden lang ohne Pause, Zeugen befragt, haben allerdings inzwischen herausgefunden, dass sich zudem sowohl der Bundesnachrichtendienst als auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das Bundeskriminalamt (BKA) vor dem Anschlag mit dem späteren Attentäter Anis Amri befasst haben.

Vor allem das BKA schätzte die Gefährlichkeit des Tunesiers, der in Berlin Drogen verkaufte, Kontakte zu arabischen Clan-Mitgliedern unterhielt und in einer radikalen Salafisten-Moschee ein und aus ging, wohl falsch ein.

Anis Amri tötete elf Menschen

Amri, ein abgelehnter Asylbewerber aus Tunesien, der mit gefälschten Identitäten in Deutschland unterwegs war, erschoss am 19. Dezember 2016 in Berlin einen Lastwagenfahrer. Mit dem Lastwagen tötete er auf dem Weihnachtsmarkt elf Menschen, mehr als 70 wurden verletzt. Er floh nach Italien, wo er am 23. Dezember 2016 bei einer Polizeikontrolle erschossen wurde.

Als Amri den Lastwagen über den Platz steuert, ist de Maizière bei einer Weihnachtsfeier mit Kollegen in einer Gaststätte. „Ich dachte sofort, das ist ein terroristischer Anschlag“, erinnert er sich.

Der Untersuchungsausschuss hat zahlreiche Schwachstellen in den Sicherheitsbehörden entdeckt, von denen einige in der Zwischenzeit behoben worden sind.

Aus Sicht einiger Abgeordneter hat der Fall Amri auch gezeigt, dass in den Verfassungsschutzämtern und Staatsschutz-Abteilungen gerade in kleineren Bundesländern oft nicht die nötige Expertise vorhanden ist, um das Risiko, das von einzelnen Islamisten ausgeht, kompetent zu beurteilen. Und um dann Maßnahmen zu ergreifen, um diese entweder hinter Gitter zu bringen, ausreichend zu observieren oder abzuschieben.

Mit diesem Lke war der Attentäter im Dezember 2016 in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin gefahren.
Mit diesem Lke war der Attentäter im Dezember 2016 in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin gefahren.

© picture alliance/dpa/Michael Kappeler

Bei einem Gefährder wie Amri, der sich in mehreren Bundesländern aufgehalten hatte, wäre es besser gewesen, das BKA und das Bundesamt für Verfassungsschutz hätten entschieden, „die Verantwortung an sich zu ziehen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses, Mahmut Özdemir (SPD).

Allerdings hat die Befragung von Zeugen aus diesen Behörden auch gezeigt, dass die Beamten dort 2016 unter erheblichem Arbeitsdruck standen - so wie auch die Berliner Polizei, die Amri nach seinem Umzug in die Hauptstadt trotz einer Warnung aus Nordrhein-Westfalen nicht observiert hatte und auch keine Anstalten machte, ihn wegen gewerbsmäßigen Drogenhandels in Haft zu bringen.

Auch wenn sich die breite Öffentlichkeit kaum mehr für die Arbeit des Untersuchungsausschusses interessiert, von den Hinterbliebenen und Überlebenden, aber auch in den Sicherheitsbehörden und von denen, die damals mit dem Fall zu tun hatten, wird sie genau verfolgt. „Ohne unsere Arbeit im Ausschuss hätte sich der Whistleblower aus Mecklenburg-Vorpommern nicht beim Generalbundesanwalt gemeldet“, sagt FDP-Obmann Benjamin Strasser.

Viele Fragen sind bis heute ungeklärt

Tatsächlich hat 2019 ein früherer Mitarbeiter des Verfassungsschutzes aus Schwerin an mehrere Bundesbehörden geschrieben. Sein Vorwurf: Ein von seiner Abteilung geführter Informant aus der Islamisten-Szene habe wenige Wochen nach dem Anschlag einen Hinweis auf eine Berliner Clan-Familie mit arabischen Wurzeln geliefert, die Amri angeblich bei der Planung des Anschlags und bei seiner anschließenden Flucht unterstützt haben soll.

Dieser aus damaliger Sicht wichtige Hinweis sei von seinen Vorgesetzten aber nie an die Ermittler weitergeleitet worden. Das dies ein politischer Fehler gewesen sei, räumt in seiner Befragung als Zeuge am Ende auch Thomas Lenz (CDU), Innen-Staatssekretär aus Schwerin, ein.

Der Leiter der Verfassungsschutzabteilung im Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern, Reinhard Müller, hatte zuvor als Zeuge im Ausschuss ausgesagt, der Hinweis sei „in sich nicht schlüssig“ gewesen. Er und der direkte Vorgesetzte des V-Mann-Führers hätten deshalb damals entschieden, ihn nicht weiterzugeben.

Zu den Merkwürdigkeiten gehört: Der Gründer der ausländerfeindlichen Pegida-Bewegung, Lutz Bachmann, will bereits 40 Minuten nach dem Anschlag einen anonymen Anruf mit Angaben zum Täter erhalten haben.
Zu den Merkwürdigkeiten gehört: Der Gründer der ausländerfeindlichen Pegida-Bewegung, Lutz Bachmann, will bereits 40 Minuten nach dem Anschlag einen anonymen Anruf mit Angaben zum Täter erhalten haben.

© imago images/ZUMA Press

Doch nicht nur die Frage, ob die Familie aus Berlin-Neukölln Amri wirklich, wie von dem Informanten behauptet, Geld für den Anschlag gegeben und ihm bei der Flucht geholfen haben soll, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Mysteriös bleibt auch, wer auf welche Art und Weise womöglich schon kurz nach dem Anschlag - und damit vor der Fahndung nach Amri - erfahren hat, dass der tunesische Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) tatverdächtig war.

Der Gründer der ausländerfeindlichen Pegida-Bewegung, Lutz Bachmann, will bereits 40 Minuten nach dem Anschlag einen anonymen Anruf mit Angaben zum Täter erhalten haben. Der Anrufer habe sich als Polizist aus Berlin vorgestellt, sagte der vorbestrafte Pegida-Frontmann als Zeuge im Ausschuss.

Bachmann hatte kurz nach dem Anschlag bei Twitter geschrieben, der Attentäter sei ein „tunesischer Moslem“. Zu diesem Zeitpunkt war die Identität von Anis Amri aber angeblich noch nicht einmal der Polizei bekannt. Nach offiziellen Angaben wurde sein Ausweis erst etliche Stunden später in einem Lastwagen gefunden. Auch ein Informant aus Nordrhein-Westfalen, der 2016 wiederholt auf Amris Gefährlichkeit hingewiesen hatte, will schon am Vormittag nach dem Anschlag von einem Polizeibeamten gehört haben, dass es Amri war.

Auch wie Amri an die Schusswaffe kam, mit der er den polnischen Lastwagenfahrer erschoss, bleibt bisher ungeklärt. Und ob sein Bekannter Bilal ben Ammar vielleicht in die Attentatspläne eingeweiht war, ist aus Sicht von Mitgliedern des Untersuchungsausschusses bis heute offen. Befragen können sie ihn nicht mehr. Er wurde wenige Wochen nach dem Anschlag nach Tunesien abgeschoben. (dpa)

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