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Opfer und Täter. Regina Nyirakamana und Jean Ntamuhanga.

© Thomas Imo/GIZ

Nach dem Völkermord in Ruanda: Täter und Opfer leben Tür an Tür

Sie haben keine andere Wahl. Notgedrungen leben Täter und Opfer des Völkermordes in Ruanda Tür an Tür. Versöhnungsgruppen sollen das erleichtern. Ihre Mitglieder denken an die Zukunft und sprechen selten über die Vergangenheit.

Er hat seinen besten Anzug angezogen. Sein Gesicht ist angespannt. Er knetet seine Hände. Seine Augen irren von einem Gesicht zum nächsten. Jean Ntamuhanga hat seinen ganzen Mut zusammen genommen und ist in das Haus von Regina Nyirakamana gekommen.

Auch Regina Nyirakamana hat ihr bestes Kleid aus dem Schrank geholt. Sie geht aufgeregt von einem Gast zum nächsten und nimmt alle in den Arm. Die 58-Jährige bekommt nicht oft Besuch. Sie lebt in Nyakagezi, einem Dorf im Süden Ruandas, nicht weit von der zweitgrößten Stadt des Landes, Huye, die früher Butare hieß und von den meisten auch heute noch so genannt wird.

Gemeinsam wollen sie davon erzählen, wie es ist, wenn Täter und Opfer eines Völkermords Nachbarn sind.

Am Abend des 6. April 1994 um 20 Uhr 20 wird über Ruandas Hauptstadt Kigali das Flugzeug des damaligen ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana und seines burundischen Kollegen Cyprien Ntaryamira beim Landeanflug abgeschossen. Es gibt einen lauten Knall. Keine 20 Minuten später beginnt das Morden in der Hauptstadt und in den folgenden Tagen im ganzen Land.

100 Tage später sind mindestens 800 000 Tutsi tot. Im Juli erobert der damalige Rebellenführer und heutige Präsident Paul Kagame mit seiner Tutsi-Miliz, der Ruandischen Patriotischen Front, Kigali und beendet so das Morden.

Täter und Opfer würden heute nicht gemeinsam in einem Zimmer sitzen, wenn der ehrenamtliche Sozialarbeiter Christoph Senyana, sie nicht vor drei Jahren in einer Versöhnungsgruppe zusammengebracht hätte. Regina Nyirakamana hat im Genozid drei Kinder und ihren Mann verloren. Ein Sohn hat überlebt. Er sei ein Baby gewesen und habe nicht viel mitbekommen, erzählt sie. Sie spricht stockend, blickt zu Boden, wiegt sich leicht hin und her. Ihr Glück war, dass die Grenze zu Burundi nicht weit weg ist. „Drei oder vier Monate“ hat sie in einem Flüchtlingslager in Burundi verbracht, dann kehrte sie zurück.

"Tutsi", das war ein Todesurteil

Sie spricht nicht darüber, wie sie es lebend über die Grenze geschafft hat. Wolfgang Blam, der 1994 für den Deutschen Entwicklungsdienst DED in Ruanda gearbeitet hat, erinnert sich, dass es schon am 7. April Straßensperren gab. Wer „Hutu“ in seinem Ausweis stehen hatte, durfte passieren. Wenn „Tutsi“ dort stand, war das ein Todesurteil.

Regina Nyirakamana musste um diese Straßensperren irgendwie herum kommen. Sie beschreibt nicht, wie ihre Kinder zu Tode kamen, wie sie ihren Mann verlor, was ihr widerfahren ist nach dem 6. April und auf der Flucht ins Nachbarland. Sie sagt: „Als ich aus Burundi zurückkam, hatte ich keinen Frieden in mir.“ Jahrelang fand sie diesen Frieden nicht wieder.

„Ich wünschte, ich hätte früher eine Beratung bekommen“, sagt sie und schaut Christoph Senyana an. Wenn die Erinnerungen sie heute überfallen, wenn der Horror zurückkehrt, wenn in der Gedenkwoche vom 7. April an die grausame Vergangenheit das ganze Land im Griff haben wird, dann weiß sie sich mittlerweile zu helfen. Sie klopft sich mit flachen Händen an den Armen und am Oberkörper ab. Das nimmt ihr die Spannung. Dann kann sie wieder atmen.

Jean Ntamuhanga hat sich die Geschichte von Regina Nyirakamana mit unbewegtem Gesicht angehört. Er sitzt neben ihr auf einem Holzstuhl in dem Zwei-Zimmer-Steinhaus mit dem gestampften Lehmboden. Der Raum ist nahezu leer. Nur zwei Bänke und ein paar Stühle stehen darin, aber kein Tisch. An den Wänden hängen Bilder mit christlichen Sinnsprüchen und ein Bild des Präsidenten. Paul Kagame guckt zu, immer. Es scheint, als ob der strenge Blick des Präsidenten Jean Ntamuhanga immer wieder verstummen lässt. Es ist gefährlich, als Hutu, der sich heute nicht mehr so nennen soll, das Falsche zu sagen. Die Regierungslinie heißt: „Wir sind alle Ruander.“ Vorsichtige Ruander.

Regine Nyirakamana dagegen verstummt aus einem anderen Grund. Judith Baessler, Friedensfachkraft der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ, hat den Journalisten vor dem Gespräch eingeschärft: „Stellen Sie keine Fragen nach Sinneseindrücken von damals, nach Erfahrungen oder Details.“ Es bestehe die Gefahr, dass die Gesprächspartner erneut traumatisiert werden.

"Ich gehörte zu den Tätern"

Auch Jean Ntamuhanga spricht nicht über Details. Er sagt lediglich: „Ich gehörte zu den Tätern.“ Er saß zwölf Jahre lang im Gefängnis. Am Ende des Gesprächs ist immer noch unklar, wofür er verurteilt wurde, wer ihn verurteilt hat, ein wieder belebtes, traditionelles Gacaca-Gericht in seinem Dorf oder ein ordentliches Gericht. Jean Ntamuhanga spricht auch nicht darüber, wie es in der Gefangenschaft war. Mitte der 90er Jahre drängten sich 125 000 Verdächtige in den Gefängnissen. Es dauerte Jahre, bis die ersten Urteile gesprochen waren.

Schon bald wurden die Gefangenen in Arbeitsbrigaden auf die Felder geschickt. Pink gekleidet, wenn sie noch in Untersuchungshaft saßen – bei vielen Gefangenen dauerte dies sechs bis acht Jahre; in orangefarbener Kleidung, wenn sie verurteilt waren. Nach zehn Jahren hatten die ersten als Völkermörder verurteilten Männer ihre Strafen abgesessen.

Die Versöhnungsgruppe war seine Rettung

„Als es Zeit war, ins Dorf zurückzukehren, wusste ich nicht, wie ich den Opfern gegenübertreten sollte“, sagt Jean Ntamuhanga. Er habe selbst seine Frau und fünf Kinder verloren – und lässt offen, wann oder wie. Der 59-Jährige lebt allein. Die Versöhnungsgruppe von Christoph Senyana war seine Rettung. Senyana gehört zu den 90 freiwilligen Sozialarbeitern, die die GIZ im Süden Ruandas ausgebildet hat. Diese Sozialarbeiter – es sind vor allem Frauen – bringen Menschen zusammen, die Konflikte haben. Die meisten, die sie schlichten, haben mit häuslicher Gewalt zu tun. Umfragen haben ergeben, dass jede zweite Ehefrau in Ruanda geschlagen wird. Ulrike Maenner, GIZ-Landesdirektorin in Ruanda, sagt, dass „es schon immer viel Gewalt in den Familien“ gegeben habe. Sie war vor 25 Jahren schon einmal in Ruanda im Einsatz, vor dem Völkermord.

Am zweithäufigsten sind Streitereien um Land. Wo endet der eine Acker, und wo beginnt der nächste, und wem gehört das Land überhaupt? Auch das ist ein Thema, das Ruanda vor dem Völkermord schon beschäftigt hat. In dem winzigen Binnenland von der Größe Brandenburgs leben inzwischen 11,5 Millionen Menschen, und die Geburtenrate ist weiterhin hoch. Die Felder sind winzig. Es gibt kaum einen Flecken in Ruanda, der nicht bewirtschaftet wird. Sümpfe sind entwässert worden, die Hügel werden bis knapp unter die Kuppe bepflanzt.

Der Mangel an Land, um die auch damals schon wachsende Bevölkerung zu ernähren, hat auf dem Weg in die Katastrophe eine wichtige Rolle gespielt. Die Sozialarbeiterinnen versuchen aber auch, den Tätern und den Opfern das Zusammenleben leichter zu machen. Notgedrungen müssen sie Tür an Tür leben. Sie haben keine andere Wahl.

Angst und Scham

In der Versöhnungsgruppe in Nyakagezi bearbeiten Opfer und Täter ihre Felder gemeinsam. Sie sparen gemeinsam, und manchmal sprechen sie über ihre Ängste, ihre Scham oder sogar über das, was passiert ist. Aber meistens wollen sie nach vorne blicken und irgendwie über die Runden kommen.

Regina Nyirakamana sagt: „In der Gruppe fühle ich mich sicher.“

Jean Ntamuhanga sagt: „Ich fühle mich wieder wie ein Teil der Gesellschaft.“

Eigentlich habe er unschuldig im Gefängnis gesessen, erzählt er später im Vertrauen. Gefragt, ob es in Ruanda noch einmal zu einem Völkermord kommen könnte, antwortet er: „Damals hatten wir eine schlechte Regierung, die von uns verlangt hat zu töten. Heute haben wir eine gute Regierung.“

Freddy Mutanguha, Leiter der zentralen Gedenkstätte Gisozi in Kigali, hat es nicht ausgehalten, sich im Gacaca-Verfahren gegen den Mann, der seine zwei kleinen Schwestern und seine Mutter umgebracht hat, die Aussage des Täters anzuhören. „Die Monate vorher hatte er meiner Mutter das Geld geliehen, das sie brauchte, um mich zur Schule zu schicken“, erzählt er und blickt zu Boden. Nach der Verhandlung habe er von Teilnehmern zumindest erfahren, wo seine Schwestern verscharrt worden waren. Er habe ihnen ein würdiges Begräbnis geben können.

Noch immer werden Knochen gefunden

Er hat beobachtet, dass viele Überlebende erst dann trauern können, wenn sie wissen, wo die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen liegen, und wenn sie beispielsweise in der Gedenkstätte Gisozi ihre letzte Ruhe gefunden haben. 250 000 Menschen sind dort in Massengräbern bestattet worden. Und noch immer werden in der Stadt Knochen gefunden, wenn eine Straße oder noch ein Wolkenkratzer gebaut wird. Auch diese Gebeine werden in die Gedenkstätte gebracht. Bis zum 20. Jahrestag am 7. April 2014 soll deren Erweiterung abgeschlossen sein. Erst im Februar wurden zwei neue Massengräber ausgehoben.

„Wir wollen die Vergangenheit nicht vergessen, uns aber auch nicht von ihr gefangen halten lassen“, sagte die ruandische Botschafterin in Deutschland, Christine Nkulikiyinka, bei einer Gedenkveranstaltung im Februar. Es wird aber wohl noch Generationen dauern, bis Ruanda seine Vergangenheit verarbeitet haben wird. Die Erfahrungen in Deutschland und Israel mit der Aufarbeitung des Holocaust zeigen, dass so etwas auch nach Jahrzehnten noch nicht abgeschlossen ist.

1994 ist niemand in Ruanda gewesen, um den Völkermord zu verhindern. Erst als die Täter aus Furcht vor Rache zu Hunderttausenden aus dem Land zogen, fing die internationale Gemeinschaft an zu helfen. Eine Überlebende sagt, was die meisten empfinden: „Wir haben immer das Gefühl, wir wurden verlassen – bis heute.“

Die Autorin war im Februar auf Einladung der GIZ in Ruanda.

Wie es 1994 zum Völkermord kam, und was die Welt daraus gelernt hat, lesen Sie hier: Alle 20 Minuten tausend tote Tutsi

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