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Migranten werden auf einem Boot der italienischen Küstenwache vor Lampedusa in Sicherheit gebracht.

© Reuters/Yara Nardi

„Zahlen werden in den kommenden Monaten wohl ansteigen“: Migrationsforscher über die Ursachen der aktuellen Flüchtlingskrise

Ruud Koopmans zufolge kommen aktuell deshalb so viele Menschen in Europa an, weil ein Preiskampf zwischen konkurrierenden Schleppern die Preise drückt. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Herr Koopmans, die Zahlen der Asylbewerber in Deutschland steigen weiter. Was kann die Ampel-Koalition tun, um gegenzusteuern?
Die Zahlen in Deutschland steigen, weil auch mehr Migranten an den europäischen Außengrenzen ankommen. Es gibt für dieses Problem keine deutsche Lösung, sondern nur eine europäische. Man muss damit rechnen, dass die Zahlen in Deutschland in den kommenden Monaten wohl weiter ansteigen werden.

Die meisten von den Menschen, die jetzt in Italien ankommen, wollen weiterziehen. Die Regierung in Rom ist weder imstande noch willens, die Asylanträge dieser Menschen nach den Regeln des Dublin-Systems abzuarbeiten.

Wie kann die Bundesregierung es verhindern, dass Asylbewerber, deren Anträge eigentlich in Ländern wie Italien oder Griechenland behandelt werden müssten, nach Deutschland weiterreisen?
Das ist ein vergeblicher Kampf. Das Dublin-System, das die Registrierung und Unterbringung der Migranten in den Erstankunftsländern regelt, ist seit mindestens zehn Jahren bankrott. Denn es passt nicht mit der Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums zusammen. Das Dublin-System kann nicht funktionieren. Man kann nicht von der Regierung in Italien verlangen, dass sie die Dublin-Regeln einhält, und die Flüchtlinge wollen ebenfalls nicht in Italien bleiben, sondern werden so oder so nach Deutschland, Österreich, die Niederlande und Schweden weiterziehen.

Was folgt daraus?
Wir brauchen Kontrolle über den Zustrom an den EU-Außengrenzen. Die kann nur durch Absprachen mit Drittstaaten erreicht werden. Aber leider funktioniert das Migrationsabkommen, für das EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen im Juli eine Absichtserklärung mit dem tunesischen Staatschef Kais Saied geschlossen hat, offensichtlich nicht.

Was müsste passieren, damit das Abkommen mit Tunesien funktioniert?
Das Ziel muss sein, dass Migranten wieder in sichere Drittstaaten zurückgeführt werden, um ihren Asylantrag dort zu stellen. Als die Absichtserklärung im Juli geschlossen wurde, hat die Bundesregierung sich aber gegen eine solche Lösung gewandt. Stattdessen blieb Berlin an der Seitenlinie stehen.

Wir brauchen eine tragfähige Vereinbarung, die es ermöglicht, irreguläre Migranten direkt wieder nach Tunesien zurückzuführen. Tunesiens Präsident Kais Saied ist ein Diktator. Aber er ist derzeit der Einzige, der etwas gegen die hohen Flüchtlingszahlen unternehmen kann. Die Menschenrechte müssen bei der Behandlung der Flüchtlinge in Tunesien gewahrt werden. Aber es kann nicht das Ziel der Verhandlungen sein, Tunesien in eine Demokratie zu verwandeln.

Warum kommen gerade jetzt so viele Flüchtlinge nach Lampedusa?
Offenbar ist gerade ein Konkurrenzkampf zwischen mehreren Schleppergruppen im Gange. Bei diesem kriminellen Geschäft kommt es derzeit offenbar zu einem Preiskampf.

Die Preise, welche die Schlepper für die Überfahrten verlangen, sinken derzeit. Damit sind mehr Menschen in der Lage, sich eine Überfahrt zu leisten. Auf der Seite der tunesischen Regierung spielt offenbar auch der Wunsch eine Rolle, die Flüchtlinge, die jetzt schon im Land sind, loszuwerden, bevor das Abkommen mit der EU endgültig greift.

Was Söder vorgeschlagen hat, ist kein Konzept, sondern reine Rhetorik.

Ruud Koopmans, Migrationsforscher

Um welche Flüchtlingsgruppen geht es dabei?
Unter den Flüchtlingen, die auf Lampedusa ankommen, sind überwiegend junge Männer aus westafrikanischen Staaten. Die Migranten aus diesen Staaten haben in der Regel bei den Asylverfahren eine extrem geringe Anerkennungsquote. Hier handelt es sich letztlich um Wirtschaftsflüchtlinge. Die Gründe, warum sie ihre Heimat verlassen, sind nachvollziehbar. Aber es handelt sich nicht um Fluchtmigration.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat gefordert, für Deutschland eine „Integrationsgrenze“ von maximal 200.000 Migranten zu setzen. Was halten Sie von dem Vorschlag?
Man kann nicht darüber hinwegsehen, dass es in Deutschland faktisch eine Begrenzung bei den Aufnahmekapazitäten gibt. Wer dies nicht anerkennen will, verleiht am Ende nur der AfD Auftrieb.

Andererseits handelt es sich bei Söders Vorschlag um ein leeres Versprechen. Was soll man denn machen, wenn in einem Jahr mehr als 200.000 Asylbewerber in Deutschland registriert werden? Was Söder vorgeschlagen hat, ist kein Konzept, sondern reine Rhetorik.

Also ist die Diskussion über Obergrenzen überflüssig?
Der Vorschlag von Unions-Parlamentsgeschäftsführer Thorsten Frei ist in diesem Punkt schon zielführender. Ich halte zwar – anders, als Frei es vorgeschlagen hat – nichts von einer Abschaffung des Individualrechts auf Asyl. Aber eine Festlegung, der zufolge die EU jedes Jahr ein Kontingent von 300.000 bis 400.000 Menschen aufnehmen sollte, ist durchaus sinnvoll, wenn wir zugleich durch Abkommen mit Drittstaaten die irreguläre Migration stark zurückdrängen.

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