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Zug nach Westen. Kinder und Frauen auf dem Weg von der ukrainisch-polnischen Grenze bei Medyka nach Krakau.

© Fabrizio Bensch/REUTERS

Schon 1,3 Millionen Kriegsflüchtlinge: Die polnische Hilfsbereitschaft mischt sich mit Angst

In 14 Kriegstagen hat Polen mehr Menschen aufgenommen als die ganze EU im ganzen Jahr 2015. Die Anlaufstellen sind überfüllt, viele wollen weiter nach Westen.

Die Bahnhöfe im Osten Polens sind überfüllt mit Menschen, die Orientierung suchen. Es sind überwiegend Frauen und Kinder, die ihre bescheidenen Habseligkeiten in Rucksäcken und kleinen Rollkoffern mit sich führen.

Halt finden die Augen zumeist erst an den Schildern in ukrainischer Sprache, die in Przemysl, Krakau und anderswo den Weg zu geheizten Wartehallen, Suppenküchen, Erste-Hilfe-Posten und Aufnahmezentren weisen. Oft sind sie mit den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb verziert.

Zweierlei hat sich in den vergangenen Tagen geändert: Anfangs hatten die meisten Flüchtlinge, die nach Polen kamen, klare Vorstellungen, wohin sie wollten. Sie hatten Namen und Adressen von Verwandten oder Bekannten. 1,4 Millionen Ukrainer lebten bereits vor Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine in Polen. Nun wächst die Zahl derer, die keine solche Anlaufstelle haben. Sie zögern, die großen Bahnhöfe zu verlassen. Es spricht sich herum, dass die Notquartiere in Polen überlastet sind.

Die Flüchtenden bleiben an den Bahnhöfen, um weiter zu reisen

Viele Menschen bleiben an den Bahnhöfen, um Züge oder Busse weiter nach Westen zu nehmen. Die großen Bahntrassen und die Autobahnen führen über Krakau oder über Warschau und Posen nach Berlin, eine weitere im Süden über Görlitz nach Dresden.

Provisorische Lager im Bahnhof von Krakau. Viele wollen mit dem nächsten Zug weiter, weil Polens Aufnahmestellen überlastet sind.
Provisorische Lager im Bahnhof von Krakau. Viele wollen mit dem nächsten Zug weiter, weil Polens Aufnahmestellen überlastet sind.

© dpa

14 Tage nach Kriegsbeginn ist die Hilfsbereitschaft in Polen weiter groß. Aber sie mischt sich mit Angst. Der Angst vor Überforderung durch die schiere Zahl der Flüchtlinge. Und der Angst, dass es Putin nicht nur um die Ukraine geht.

„Wir müssen helfen, weil wir die nächsten sein könnten.“ So beschreiben viele Helfer ihre Motivation, berichten polnische Medien. Die Furcht, dass Polen in Putins Fadenkreuz gerät, ist auch ein Motiv im Streit um die Weitergabe polnischer MiG-29-Kampfjets an die Ukraine.

Mehr zum Krieg gegen die Ukraine lesen Sie bei Tagesspiegel Plus:

In den zwei Wochen seit dem 24. Februar sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 2,2 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. 1,3 Millionen Menschen davon kamen nach Polen, sagt der Grenzschutz. Das sind mehr als in die ganze EU im ganzen Migrationsjahr 2015.

Die Hauptlast tragen die Bürger, nicht der Staat

Vor dieser Herausforderung steht ein Land, das 38 Millionen Einwohner hat, weniger als die Hälfte der Einwohnerzahl Deutschlands. Und das nur über ein Drittel des Wohlstands der Bundesrepublik verfügt, die derzeit ihre eigenen Lernkurven durchläuft.

Mit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine hat Polen Erfahrung, jedoch nicht mit einer so großen Welle in so kurzer Zeit. Mehr als eine Million kamen seit 2014, als Putin die Krim annektierte und den Sezessionskrieg in den ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk unterstützte.

Private Hilfsbereitschaft: Freiwillige empfangen die Kriegsflüchtlinge in Polen mit heißen Getränken und Essen, hier am Grenzübergang Medyka.
Private Hilfsbereitschaft: Freiwillige empfangen die Kriegsflüchtlinge in Polen mit heißen Getränken und Essen, hier am Grenzübergang Medyka.

© Louisa GOULIAMAKI/AFP

Der Staat spielte bei Aufnahme und Integration keine große Rolle. Das leisteten die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft durch Integration ins Arbeitsleben. Die staatlichen Hilfsprogramme sind völlig unterentwickelt, klagt die Hilfsorganisation „Uchodzcy Info“ (Flüchtlingsinfo). In der Praxis sind sie noch schlechter als in der Theorie“ auf dem Papier.

Ein umfassendes staatliches Aufnahmesystem „müssen wir erst aufbauen“, sagt Piotr Bystrianin, Vorsitzender der Hilfsorganisation „Fundacja Ocalenie“, im TV-Sender tvn24. „Es geht um einen Marathon, nicht um einen Sprint.“

Jahrelange Erfahrung mit Ukraine-Hilfe

Über die Jahre sind spezielle Hilfsangebote für diese Menschen entstanden, von der Caritas bis zu säkularen Organisationen. Ukrainer in Polen haben ihre eigenen Netzwerke aufgebaut. Die Stiftung „Das ukrainische Haus“ in Warschau hat ein Willkommenszentrum aufgebaut, gibt eine Zeitung für Ukrainer in Polen heraus, macht Kultur- und Bildungsangebote.

Auf diese Erfahrungen greifen nun polnische Medien zurück. Sie erstellen Ratgeber für Hilfswillige wie Hilfesuchende. Die staatlichen Aufnahmelager reichen bei weitem nicht.

Ein Großteil der Flüchtlinge findet Zuflucht in privaten Häusern und Wohnungen. Was ist zu beachten, wenn Polen Ukrainer bei sich aufnehmen, wie ist deren Gesundheitsversorgung geregelt, wo gibt es kostenlose Corona-Impfungen, und wie finden die Neuankömmlinge eine legale Arbeit, um nach der Eingewöhnungszeit selbst den Lebensunterhalt zu bestreiten?

Ukrainer können visafrei einreisen, Asylbürokratie entfällt

Für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gelten andere Regeln in der EU als für den Großteil der Zufluchtsuchenden aus Afghanistan, Syrien, dem Irak oder Afrika 2015. Ukrainer können visafrei in die EU einreisen und ohne Auflagen drei Monate bleiben. Sie müssen also nicht an der Grenze um Asyl bitten. Und es ist fraglich, ob sich nach Ablauf der drei Monate staatliche Stellen mit der Aufforderung melden, auszureisen oder eine Duldung zu beantragen.

Für vielen Polen hat die Solidarisierung mit der Ukraine auch mit der eigenen Geschichte zu tun, ist in polnischen Feuilletons zu lesen. Die Bilder von zerstörten Städten in der Ukraine wecken Erinnerungen an die eigenen Ruinenstädte im Weltkrieg.

Bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands machten die Nazis Polens Hauptstadt dem Erdboden gleich. Die Rote Armee, die bereits auf der anderen Weichselseite stand, leistete nicht die erhoffte Hilfe.

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