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In vielen Städten in Ostpolen entstehen Flüchtlingslager und Suppenküchen, wie hier am Bahnhof Przymsl, zur Versorgung ukrainischer Kriegsflüchtlinge.

© Wojtek RADWANSKI/AFP

So blickt Polen auf die Ukraine: Offene Türen für Flüchtlinge, Deutschlands Blamage – und Furcht vor dem Krieg

1,5 Millionen Ukrainer leben in Polen, ihre Kinder besuchen polnische Schulen. Die Kriegsfolgen übertönen die Spaltung des Landes und den Konflikt mit der EU.

Anderthalb Millionen Ukrainer leben bereits in Polen. Und täglich werden es mehr. Wladimir Putins Angriff auf den östlichen Nachbarn, die Not der Menschen, die Solidaritätsaktionen und die Furcht vor den Folgen beherrschen die Gespräche der Bürger und die Medien in Polen.

Hinzu kommt die Sorge, dass Putin auch die Baltischen Staaten und sogar Polen angreifen könnte, obwohl sie Nato-Mitglieder sind. Der Suwalki-Korridor ist die Schwachstelle an der Ostgrenze der Allianz. Die Nato hat zwar eine Beistandsgarantie gegeben. Aber auf wen und auf was ist jetzt noch Verlass?

An einer anderen politischen Front, dem Konflikt Warschaus mit der EU um den Rechtsstaat, wird es dagegen ruhiger. Beide Seiten haben jetzt größere Probleme. Darunter die zu erwartende Flüchtlingswelle. An der ukrainisch-polnischen Grenze bilden sich Autoschlangen, die bis zu 15 Kilometer lang sind.

Eine Art Burgfrieden zeichnet sich auch zwischen der der nationalpopulistischen Regierungspartei PiS und der liberalen Opposition ab. Bis zu Putins Einmarsch hatten sie sich erbittert bekämpft. In vielen Aspekten der Ukraine-Berichterstattung sind sich ihre ansonsten verfeindeten Medien weitgehend einig.

Russische Panzer nahe der polnischen Grenze

Angesichts der menschlichen Tragödie und der absehbaren Gefahren auch für Polen rückt der ideologische Streit in den Hintergrund. In Brest, unweit der Grenze von Belarus zu Polen, haben sich russische Panzer auf einem Militärgelände gesammelt.

Das zeigen Satellitenbilder. Sind das Indizien, dass es Wladimir Putin nicht nur um die Ukraine geht, sondern plant, auch Nato-Gebiet anzugreifen?

[Lesen Sie auch: Schmach des Bedeutungsverlusts. Putin will das Rad der Geschichte mit Waffengewalt zurückdrehen. (T+)]

Regierung wie Opposition kritisieren Deutschland, Italien und Ungarn scharf. Sie hätten verhindert haben, dass die EU und die USA die schärfste Sanktion beschließen: den Ausschluss Russland aus dem Zahlungssystem Swift.

OppositonsführerTusk: Deutschland hat sich blamiert

„Die Regierungen Deutschlands, Italiens und Ungarns haben sich blamiert“, kommentiert Oppositionsführer Donald Tusk bitter. „Sie tun nur so, als wollten sie harte Sanktionen.“ Tusk war vergangenen Sommer von einem EU-Posten nach Polen zurückgekehrt.

Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte in den EU-Beratungen gefordert, Swift einzubeziehen. US-Präsident Joe Biden ließ durchblicken, dass die USA dazu bereit sind, die Europäer sich jedoch nicht geschlossen dazu durchringen konnten. Neben Deutschland, Italien und Ungarn war nach Informationen aus Brüssel auch Frankreich dagegen – aus Rücksicht auf die französische Investmentbank Société Génerale und die italienische Bank UniCredit.

Ukrainer kehren zurück, um zu kämpfen – auch Box-Weltmeister Ussyk

Aufmerksam wird beobachtet: Die Schlangen an den Grenzpunkten zwischen der Ukraine und Polen bilden sich in beiden Richtungen. Eltern mit Kindern und junge Menschen, die ihre entscheidenden Lebensjahre nicht in einer russisch kontrollierten Diktatur verbringen wollen, suchen bessere Chancen im Ausland und fliehen nach Westen. In der Gegenrichtung wollen vor allem Männer zurück in die Ukraine, um sich dem bewaffneten Widerstand anzuschließen.

Wegen der kilometerlangen Schlang an der Grenze zu Polen lassen viele Flüchtlinge ihre Fahrzeuge in der Ukraine stehen, um zu Fuß das Land zu verlassen, ehe es zu spät dafür ist. Hier am Grenzübergang Medyka.

© Michael Kappeler/dpa

Zurück in der Heimat ist auch Oleksandr Ussyk, der Box-Weltmeister im Schwergewicht. Bei den Olympischen Spielen in London 2012 hatte er die Gold-Medaille gewonnen und danach eine Profi-Karriere begonnen.

Wer regelmäßig in Polen ist und ein Ohr für die Landessprache hat, konnte in den vergangenen Jahren beobachten, wie die ukrainischen Flüchtlinge und Migranten immer weiter nach Westen vordringen. Seit der russischen Annexion der Krim 2014 und dem von Moskau lancierten hybriden Krieg in der Ost-Ukraine hat sich die Bewegung verstärkt.

Weicher Singsang in Küstrin und Slubice: Polnisch mit östlichem Akzent

Gleich hinter der deutsch-polnischen Grenze, in Küstrin und Slubice, sprechen viele Verkäuferinnen in den Supermärkten, Kellner in den Restaurants und andere Dienstleister ein Polnisch mit unüberhörbarem Akzent: in einem weicheren, fast süßlich klingenden Singsang. Offiziell sind 850.000 Ukrainer in Polen beschäftigt. Inoffiziell sind es viel mehr. 60.000 ukrainische Kinder besuchen polnische Schulen und Kindergärten, mehr als eine Verdoppelung seit Kriegsbeginn in der Ost-Ukraine 2014.

Unzählige Solidaritätsaktionen und Hilfsorganisationen bitten um Unterstützung. Mit Genugtuung wird berichtet, wenn Prominente, die im Verdacht stehen, Verständnis für Putin zu haben, sich unter öffentlichem Druck von ihm distanzieren müssen, wie Stardirigent Walerij Giergiejew. Der Bürgermeister von Mailand, Giuseppe Sala, habe verfügt, dass in der Scala in diesen Kriegstagen nur Dirigenten ans Pult dürfen, die Putins Angriff verurteilen.

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