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Das polnische Parlament stimmte der Abschaffung der Disziplinarkammer zu.

© Wojciech Olkusnik/dpa

Polen und die EU: Reform mit Fragezeichen

Polen schafft die Disziplinarkammer für Richter ab. Kritiker befürchten aber, dies sei lediglich ein Etikettenschwindel für die Freigabe von EU-Geldern.

Polens Parlament hat am Donnerstagabend die Abschaffung der Disziplinarkammer am Obersten Gericht beschlossen. Die umstrittene Kammer, die politisch missliebige Richter und Staatsanwälte absetzen kann, gilt als Hindernis für die Auszahlung des polnischen Anteils aus dem Corona-Hilfsfonds der Europäischen Union in Höhe von rund 36 Milliarden Euro. Trotz des Beschlusses des Parlaments ist aber weiter offen, ob und wann die EU-Kommission die Gelder freigibt.

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Polens Premierminister Mateusz Morawiecki von der nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) zeigte sich bereits vor dem Beschluss des Parlaments optimistisch. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen werde am kommenden Donnerstag in Warschau erwartet, um dort eine Vereinbarung über die so genannten Meilensteine zu unterzeichnen, sagte er. Dies sind die Bedingungen, die Warschau erfüllen muss, um die Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zu erhalten.

Für die Freigabe der Gelder reicht nicht allein der Gesetzestext

Allerdings wurde am Freitag in EU-Kommissionskreisen betont, dass für die Auszahlung der Corona-Milliarden nicht die im Sejm beschlossene Gesetzgebung maßgeblich sei, sondern die tatsächliche Umsetzung der Meilensteine. Dazu zählen neben der Abschaffung der Disziplinarkammer die Wiedereinsetzung von geschassten Richtern und die grundsätzliche Zusage, dass die Justiz keiner politischen Beeinflussung unterliegt.

Das vom polnischen Präsidenten Andrzej Duda eingebrachte Gesetz zur Abschaffung der Disziplinarkammer muss vor seiner endgültigen Verabschiedung noch den Senat passieren. Ein möglicher Einspruch des Senats hätte allerdings nur aufschiebende Wirkung.

Streit um die Rechtsstaatlichkeit schwelt seit Jahren

Die EU-Kommission befindet sich seit Jahren mit der Regierung in Warschau im Clinch, weil die PiS das polnische Justizwesen seit ihrer Machtübernahme 2015 zunehmend unter ihre Kontrolle gebracht hat – was wiederum nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gegen die Prinzipien der Gewaltenteilung verstößt. Im Oktober war der Streit eskaliert, nachdem der EuGH ein tägliches Bußgeld in Höhe von einer Million Euro gegen Polen verhängte, weil die Regierung weiter an der Disziplinarkammer festhält. Die fälligen Zwangsgeldzahlungen haben sich inzwischen auf mehr als 200 Millionen Euro summiert.

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Gleichzeitig sind sowohl die EU-Kommission als auch die Regierung in Warschau um eine Beilegung des Streits bemüht, zumal Polens Beitrag innerhalb der EU angesichts des Krieges in der Ukraine als unverzichtbar gilt. Polen hat seit Beginn des russischen Angriffskrieges rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen.

Disziplinarkammer soll durch neues Gremium ersetzt werden

Kritiker wenden allerdings ein, dass das am Donnerstag vom Sejm beschlossene Gesetz zur Abschaffung der Disziplinarkammer lediglich Kosmetik betreibe. Laut dem Gesetz soll die Disziplinarkammer durch ein neues Gremium am Obersten Gerichtshof ersetzt werden. Geplant ist eine neue „Kammer für berufliche Verantwortung“. Kritisiert wird, dass die Entscheidung über die Zusammensetzung des Gremiums am Ende bei Staatspräsident Duda liegt.

SPD-Außenpolitiker Roth: Sejm-Votum ist nur ein erster Schritt

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, sagte dem Tagesspiegel, es sei gut, „dass man jetzt endlich ernsthafte Versuche in Warschau unternimmt, die schwerwiegenden Bedenken der EU im Hinblick auf die mangelhafte Unabhängigkeit der polnischen Justiz auszuräumen“. Allerdings sei nach wie vor ungewiss, ob die Disziplinarkammer wirklich abgeschafft werde. „Ein Wechsel der Etiketten wäre zu wenig“, so Roth. Der SPD-Politiker erinnerte daran, dass es noch eine Reihe weiterer Kritikpunkte der EU angesichts des Zustands der Rechtsstaatlichkeit in Polen gebe. „Hier bedarf es noch weiterer substanzieller Schritte und Entscheidungen“, sagte er

Grünen-Europaabgeordneter Lagodinsky: Umbenennung der Kammer reicht nicht

Auch der Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky äußerte die Befürchtung, dass mit dem neuen geplanten Gremium am Obersten Gericht lediglich ein Etikettenschwindel betrieben werde. „Nur wenn man die Kammer umbenennt, stellt man nicht die Rechtsstaatlichkeit wieder her“, sagte er dem Tagesspiegel. Lagodinsky wies zudem darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof die Berufung der Richter in Polen durch den Nationalen Gerichtsrat wegen der politischen Einflussnahme in Frage gestellt habe. „Diese Richter bleiben aber im Amt, die Struktur des Rates bleibt unverändert, der Rat wird nach neuen Regeln jetzt neu wieder gewählt“, sagte Lagodinsky. „Das darf die Kommission nicht akzeptieren.“

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