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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto.

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Polen, Juden, Deutsche erinnern gemeinsam: „Helden für Israel, Helden für Polen, Helden für die Welt“

Bundespräsident Steinmeier bittet in Warschau um Vergebung für die deutschen Verbrechen und bekräftigt die Unterstützung für die Ukraine als Lehre aus dem „Nie wieder“.

Von den Frauen und Männern, die sich vor 80 Jahren im Warschauer Ghetto gegen die deutschen Besatzer erhoben, lebt niemand mehr. Auch die nicht, die den Aufstand wie durch ein Wunder überlebten und zu Zeitzeugen wurden, wie Marek Edelman.

Ihre Worte aber waren es, die den Menschen beim Gedenken am Mittwoch die Tränen in die Augen trieben. Worte, die die Präsidenten Polens, Israels und Deutschlands, Andrzej Duda, Jitzchak Herzog und Frank-Walter Steinmeier in ihren Reden zitierten.

Die Ergriffenheit war den Anwesenden anzumerken, als ein Jugendchor das Lied „Zog nit keyn mol, az du geyst dem letstn veg“ auf Jiddisch, Hebräisch und Polnisch sang. Die wortgewaltigen Strophen und die Melodie haben es zu einer Hymne des Aufstands werden lassen, die alles vereint.

Sie wollten über ihren Tod bestimmen

Kampfeswillen: „Unser Tritt wird dröhnen: Wir sind da!“ Opferbereitschaft: „Wo gefallen ist ein Spritzer von unserem Blut, da wird sprießen unser Heldentum und Mut!“ Glaube an eine Zukunft für ein jüdische Volk in Freiheit: „Dieses Lied soll wie eine Parole von Generation zu Generation gehen.“

Sie wussten, dass sie sterben würden. Aber sie wollten die Art ihres Todes selbst bestimmen, sagte Marian Turski, Auschwitz-Überlebender und polnischer Historiker. Sie wollten kämpfend sterben statt durch Deportation in ein Todeslager.

Israels Staatsoberhaupt Jitzchak Herzog zitierte die bittere Lagebeschreibung eines Ghettobewohners, die hinausgeschmuggelt wurde. „Heute sehe ich zum letzten Mal den Himmel. Morgen um diese Zeit werde ich nicht mehr leben.“

Herzog: Ein Sieg menschlicher Moral

Er schließe die Augen, sagte Herzog, und sehe die jungen Menschen vor sich, die mit Molotowcocktails gegen Panzer kämpften, die viel zu wenige Waffen und „keine Aussicht“ auf Erfolg hatten. „Auch wenn sie starben, sind sie die Sieger.“ Denn sie hätten ein Beispiel für menschliche Moral und Entschlossenheit gesetzt.

Polens Präsident Andrzej Duda erinnerte daran, dass die 450.000 Juden, die die Nazis zeitweise im Ghetto zusammengepfercht hatten, Bürger Polens waren. Das Polen der Zwischenkriegszeit sei keine homogene Nation gewesen wie heute, sondern ein Vielvölkerstaat mit vielen Minderheiten.

Duda: Die Waffen bekamen sie von Polen

Er wandte sich gegen das Narrativ polnisch-jüdischer Konflikte. Die Aufständischen im Ghetto hätten einen Großteil ihrer Waffen vom polnischen Widerstand erhalten. Und soweit die Kämpfer den vierwöchigen Aufstand im April und Mai 1943 überlebten und sich durch die Abwasserkanäle retteten, als die deutschen Besatzer das Ghetto ausradierten, hätten sich 1944 dem nationalen Warschauer Aufstand angeschlossen. „Sie sind Helden für Israel, Helden für Polen, Helden für die ganze Welt.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist der erste Deutsche, der zu einer Rede an einem Jahrestag des Ghetto-Aufstands eingeladen wurde. „Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben.“

Er erinnerte an den Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Ghetto-Denkmal 1970. Die Versöhnungsbereitschaft, mit der viele Juden und Polen Deutschen begegneten, sei „ein Geschenk, das wir nicht erwarten konnten. Wir müssen und wir wollen das Wunderwerk der Versöhnung bewahren und in die Zukunft führen.“

Steinmeier: „Nie wieder!“ verpflichtet zu Ukraine-Hilfe

Wie zuvor Duda leitete Steinmeier aus dem Gedenken eine Verantwortung ab, die Ukraine gegen den russischen Angriff zu unterstützen. „Die wichtigste Lehre aus unserer Geschichte lautet: nie wieder!“ Es dürfe nie wieder „Rassenwahn“ geben, nie wieder „entfesselten Nationalismus“.

„Nie wieder, das bedeutet, dass es in Europa keinen verbrecherischen Angriffskrieg wie den Russlands gegen die Ukraine geben darf. Nie wieder, das bedeutet: Wir stehen fest an der Seite der Ukraine – gemeinsam mit Polen und mit unseren anderen Bündnispartnern.“

Europa gründe auf gemeinsamen Werten. Russlands Präsident Wladimir Putin habe mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff auf ein friedliches, demokratisches Nachbarland „diese Werte verhöhnt und die Grundlagen unserer europäischen Sicherheitsordnung zerstört“, sagte Steinmeier.

Seit Willy Brandts Kniefall hat sich der Platz mit dem Ghetto-Denkmal stark verändert. In unmittelbarer Nachbarschaft wurde 2007 unter dem damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczynski der Grundstein für das Museum POLIN gelegt. Es wurde 2013 eröffnet und ist eines der interessantesten neueren Museen in Europa. Im Zentrum steht nicht der Holocaust, sondern die viele Jahrhunderte umfassende Geschichte jüdischen Lebens in Polen.

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