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1943: Deutsche SS-Truppen bewachen gefangene jüdische Aufständische.

© imago/United Archives International

80 Jahre Warschauer Ghetto-Aufstand: Über den jüdischen Widerstand

Jüdisches Leben stand immer im Widerspruch zur Tyrannei, sagt der Präsident des Zentralrats der deutschen Juden anlässlich des Gedenkens an den Aufstand. Und jüdische Geschichte sei eine Geschichte des Mutes.

Ein Gastbeitrag von Josef Schuster

Wenn der Bundespräsident heute als erster deutscher Staatsgast beim Gedenkakt zum 80. Jahrestag des Beginns des Warschauer Ghettoaufstandes in der polnischen Hauptstadt sprechen wird, fällt der Blick auf einen Teil der Geschichte, der in der deutschen Öffentlichkeit bisher wenig Beachtung findet: jüdischer Widerstand im Zweiten Weltkrieg.

Die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte, zumal mit der Zeit des Nationalsozialismus, glich in Deutschland in weiten Teilen einer Art Selbstbeschäftigung. Wer kann es den Generationen des Wirtschaftswunders, des Kalten Krieges oder der Wiedervereinigung verdenken? Im Vordergrund stand die mühsame Auseinandersetzung mit der eigenen Täterschaft, zumindest in der Bundesrepublik ab den 1960er Jahren.

Eine selbstbestimmte jüdische Identität, die über die Opferrolle hinausgehen konnte, passte kaum in die zum Teil radikale „Bewältigung“ der eigenen Vergangenheit. Und die jüdische Welt selbst war sprachlos, zu sehr damit beschäftigt, sich nach dem Horror der Schoa neu zu finden. Wen interessierte es also, dass zum Beispiel Willy Brandt 1970 vor dem Mahnmal des Ghetto-Aufstandes in Warschau kniete, wenn sich daraus geschickt ein Symbol der deutsch-polnischen Versöhnung stricken ließ.

Bundespäsident Steinmeier ist beim Gedenkakt dabei

Dass der polnische Staatspräsident Andzrej Duda neben dem israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog auch den Bundespräsidenten nach Warschau einlädt und dieser hier eine zentrale Rolle bei dem Gedenkakt einnimmt, zeigt, dass heute bereits vieles anders ist. Und das gilt nicht nur für die deutsche Seite. Es ist kein leichter Weg, auf den sich der Bundespräsident macht, kam die Einladung, bei der Gedenkzeremonie zu sprechen, doch auch ein wenig überraschend. Aber dass er ihn beschreitet und Verantwortung übernimmt, verdient schon jetzt großen Respekt.

Und es ist notwendig. Wir befinden uns in einem erinnerungspolitischen Wandel, der erfahrungsgemäß gleichermaßen Gefahren wie Chancen in sich birgt. Der Übergang in eine Zeit ohne Zeitzeugen der Schoa wird unseren Blick auf die Vergangenheit und wie wir erinnern und gedenken spürbar verschieben. Wir erleben dies an neuen Debatten über die Einzigartigkeit der Schoa, die wir vor mehr als 30 Jahren für entschieden glaubten. Oder wir spüren auch, wie einige postkoloniale Theorien mit grober Radikalität benutzt werden, um den Schutzwall gegen jede Form von Antisemitismus, ein konstitutives Element dieses Landes, einzureißen.

Das sind offene Flanken unserer freien Gesellschaft, die geschlossen werden müssen. Gleichzeitig gibt uns der angesprochene Wandel die Gelegenheit, die Selbstbestimmtheit jüdischen Denkens und Handelns hervorzuheben. Wir können damit einen nicht unerheblichen Beitrag dazu leisten, die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland, wie sie vor der Schoa herrschte, wieder zu sichern.

Die jüdische Stimme ist nicht nur Mahnung oder das ewige Mantra des Nicht-Vergessens. Jüdisches Leben stand und steht im Widerspruch zu Tyrannei. Die jüdische Geschichte ist eine Erzählung des ständigen und beständigen Aufbegehrens gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Sie ist eine Geschichte des Mutes; auch und gerade in Deutschland. Jüdische Werte können ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Verfasstheit einer Gesellschaft sein. Jüdinnen und Juden waren und sind Bringer von Modernität, Innovation und gesellschaftlichem Fortschritt.

Der jüdische Widerstand im dunkelsten Moment jüdischer Geschichte wirkt trotz seiner Tragik, die auch den Warschauer Ghetto-Aufstand ausmacht, wie ein Antidepressivum in der ansonsten so bedrückenden Erinnerung an diese Zeit. Die Erinnerung an ihn sollte nicht in der Vergangenheit verharren, sondern ein Zeichen des Aufbruchs sein, der mir gegenwärtig so wichtig wie kaum zuvor erscheint. So wie wir als Gesamtgesellschaft erinnern, blicken wir auch auf die Gegenwart.

Josef Schuster ist Arzt und seit November 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Josef Schuster ist Arzt und seit November 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

© IMAGO/Emmanuele Contini

Es sind für mich zwei Seiten derselben Medaille, wenn es darum geht, jüdisches Leben im hier und jetzt in all seiner Vielfalt, Selbstbestimmtheit und Relevanz für unsere offene Gesellschaft zu begreifen und auf der anderen Seite das spezifisch Jüdische in der Geschichte wahrzunehmen. Das ist mehr als ein Perspektivenwechsel, sondern eine Einstellung; wenn man so will, eine Haltung, die gesamtgesellschaftlich wachsen muss.

Die Grundlagen dafür wird nur die jüdische Gemeinschaft selbst legen können. Das ist die Lehre der Geschichte. Damit dies gelingt braucht es aber auch einen Resonanzraum, der entsteht, wenn das Bewusstsein unserer Gesellschaft für das selbstbestimmt Jüdische in unserer deutschen Geschichte geschärft wird. In dieser Linie sehe ich den Besuch des Bundespräsidenten in Warschau. Frank-Walter Steinmeier hat heute die Chance, in einer Gunst des Zeitgeschehens diesem Bewusstsein den Weg zu ebnen.

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