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Von Sprechverboten umstellt - so fühlen sich schon 44 Prozent der Deutschen.

© Getty Images

Können wir noch frei reden?: Zunehmende sprachlos

Noch nie hatten so viele Deutsche den Eindruck, sie dürften nicht mehr sagen, was sie denken. Welche Folgen hat das - und lässt sich der Trend wieder umkehren?

Von Hans Monath

Die Meinungsfreiheit ist unter Druck wie noch nie – so zumindest sehen das viele Deutsche. Nur noch 45 Prozent sagen laut einer neuen Allensbach-Umfrage im Auftrag der „FAZ“, sie könnten ihre Gedanken frei äußern, praktisch gleich viele (44 Prozent) widersprechen – ein Negativrekord. Lange Zeit sah die Mehrheit der Deutschen hier kein Problem, aber seit etwa zehn Jahren verändern sich die Werte dramatisch.

Wie steht es tatsächlich um die Meinungsfreiheit in Deutschland?

Dass Artikel 5 des Grundgesetzes („Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern...“) kein leeres Versprechen ist, zeigen Indizes zur Pressefreiheit weltweit: Deutschland landet dort meist nicht an der Spitze, aber doch weit oben. „Selbstverständlich kann man in Deutschland seine Meinung frei äußern“, sagt Frank Überall, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes. Zum demokratischen Diskurs gehöre aber auch, dass es Gegenmeinungen gibt. „Die muss man aushalten, damit muss man sich auseinandersetzen“, mahnt Überall.

Die von Allensbach Befragten meinen nicht ihren rechtlichen Anspruch auf Redefreiheit, sie beschreiben vielmehr ein Meinungsklima, also Erfahrungen mit der oder Erwartungen an die Reaktion anderer Menschen oder der Öffentlichkeit auf Äußerungen. Wichtig in dem Zusammenhang ist auch: Die Behauptung, in Deutschland herrsche eine „Meinungsdiktatur“ ist ein zentraler Baustein rechtspopulistischer und -extremer Diskurse. „Man sollte nicht dem rechtspopulistischen Narrativ auf den Leim gehen, dass man seine politische Meinung nicht mehr frei äußern dürfe“, warnt der Vizechef des Berliner Instituts für Parlamentarismusforschung, Benjamin Höhne.

Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die Hälfte der Deutschen solche Thesen übernimmt, ohne sie mit eigener Lebenserfahrung abzugleichen. „Wer auch nur Fragen an den öffentlich herrschenden Konsens richtet, sieht sich ganz schnell als Rassist oder Sexist, als Klima- oder Wissenschaftsleugner diskreditiert, damit moralisch delegitimiert und damit aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen“, sagt der Mainzer Historiker Andreas Rödder. Er erinnert an die These des Franzosen Jean-Francois Lyotard, wonach der Konsens „immer auch ein Instrument zur Unterdrückung von Widerspruch“ sei. Der Mitgründer des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit stimmt zu: „Das ist es: Unterdrückung von Widerspruch zwecks Errichtung einer woken kulturellen Hegemonie, um Antonio Gramsci zu zitieren.“ Als „woke“ werden Menschen bezeichnet, die gegen Rassismus und Benachteiligung von Minderheiten vorgehen.

Rein rechtlich garantiert Artikel 5 des Grundgesetzes die Meinungsfreiheit, doch das Problem scheint vielen Deutschen nicht ihr Staat.
Rein rechtlich garantiert Artikel 5 des Grundgesetzes die Meinungsfreiheit, doch das Problem scheint vielen Deutschen nicht ihr Staat.

© Florian Kleinschmidt/dpa

Warum nimmt der Anteil der Menschen zu, die Sprechverbote fürchten?

Ein Grund dürfte eine wachsende Kluft zwischen veröffentlichter Meinung und der Haltung großer Bevölkerungsgruppen sein. Seit Jahrzehnten lag das Vertrauen der Deutschen zu den Medien auf hohem Niveau. Im Flüchtlingsherbst 2015 aber stellten Demoskopen fest, dass rund 40 Prozent und damit mehr als je zuvor meinten, die Medien würden die bestehenden Probleme nicht zutreffend beschreiben.

Es sei zu beobachten, "dass im Herbst/Winter 2015/16 sehr viele Menschen auf das von den Medien gezeichnete Bild ,Flüchtlinge/Willkommenskultur' wie desillusioniert reagierten und generell über die Informationsmedien deutlich enttäuscht, auch misstrauisch urteilten", schreibt dazu Michael Haller von der Universität Leipzig in einer Studie zum Thema.

Eine ähnliche Diskrepanz gibt es bei anderen Themen, die in den vergangenen Jahren stärker in die Öffentlichkeit drängen und in vielen Medien und Universitäten wichtiger genommen werden als von großen Teilen der Bevölkerung, etwa die gendergerechte Sprache. Diese wird von einer Mehrheit (71 Prozent in der aktuellen Frage) abgelehnt, auch in der jüngeren Generation.

Schließlich dürfte auch eine Spaltung der Gesellschaft in freiheitsorientierte Kosmopoliten und auf kleinere Gemeinschaften fokussierte Kommunitaristen (so der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel) oder in kreative urbane Mittelschichten und Globalisierungsverlierer (so die Soziologin Cornelia Koppetsch) zur Sprachlosigkeit zwischen Bevölkerungsgruppen beitragen. Akademisch gebildete Eliten, die wichtige Funktionen besetzen, gehören meist zur ersten Gruppe.

Welche Rolle spielen dabei die Medien, insbesondere das Internet?

Man könne seine Meinung in Deutschland heute „womöglich besser als jemals zuvor“ frei äußern, sagt Parlamentarismusforscher Höhne und verweist in diesem Zusammenhang auf die „vielfältigen Artikulationsmöglichkeiten in den Sozialen Medien“. Tatsächlich kann heute jeder seine Meinung ungehindert unter die Leute bringen, sofern sie nicht gegen Gesetze oder die Regeln der Plattform verstößt. Doch das hat auch Kosten, auf die Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) hinweist: Die „Twitter-Logik, also das Schwarz-Weiß-Denken“ sei „mittlerweile tief im öffentlichen Diskurs verankert“, meint er. Man könne zwar alles sagen, werde aber nicht mehr differenziert gehört. „Es gibt eine Tendenz des bewussten Missverstehens, das vor allem auf die moralische Ausgrenzung der anderen Meinung zielt“, meint der FDP-Parteivize: „Das schreckt mittlerweile viele Menschen ab, noch die eigene Meinung frei und offen zu vertreten.“

Was viele Medien praktizieren, lehnen zwei Drittel der Deutschen ab: das Gendern.
Was viele Medien praktizieren, lehnen zwei Drittel der Deutschen ab: das Gendern.

© Foto: Imago/Christian Ohde

Bei den „klassischen Medien“ wächst die soziokulturelle Kluft zu großen Bevölkerungsgruppen. Die in den meisten Fällen akademische Ausbildung von Journalistinnen und Journalisten durchlaufen viele Mediennutzer nicht. Aktionsbündnisse drängen auf die stärkere Vertretung etwa von Frauen, Migranten oder sexuellen Minderheiten in den Medien. Andere Bevölkerungsgruppen haben dort keine Vorkämpfer. Die Sprache der Arbeiterinnen und Arbeiter, so fand der Jenaer Soziologe Klaus Dörre heraus, ist dort nicht mehr vertreten.

Erwächst aus den Befunden ein Problem für die Politik?

Die Entwicklung sei gefährlich, „weil der respektvolle Streit um die bessere Lösung die tragende Säule unserer Demokratie ist“, sagt Kubicki: „Nehmen relevante Teile der Bevölkerung nicht mehr am öffentlichen Diskurs teil, führt dies zu immer größer werdenden Ausgrenzungserfahrungen und zur gesellschaftlichen Desintegration.“ Zudem verspiele die Gesellschaft die Möglichkeit, „eine bessere politische Lösung zu finden, wenn wir bestimmte Ansichten einfach nicht mehr hören – und deshalb auch nicht in einen Abwägungsprozess aufnehmen können“.

Auch Journalisten-Vertreter Überall ist beunruhigt. „Der Schritt von der Behauptung, man könne seine Meinung nicht frei äußern, zum Duckmäusertum ist ein sehr kurzer“, warnt er: „Die Demokratie braucht mündige Staatsbürger*innen, die für ihre Ansichten streiten und sich nicht gleich wegducken, wenn es Gegenwind gibt.“

Soziologe Dörre verweist darauf, dass Arbeiterinnen und Arbeiter auch aus Enttäuschung darüber, in der Öffentlichkeit nicht mehr vertreten zu sein, häufig AfD wählen. Wenn deren Balken am Wahltag nach oben gehen, fühlten sie sich politisch wieder wahrgenommen und wirksam. 

Prominenter Streiter gegen das Gendern und gegen die Kultur der "Wokeness" in der akademischen Welt: Historiker Andreas Rödder.
Prominenter Streiter gegen das Gendern und gegen die Kultur der "Wokeness" in der akademischen Welt: Historiker Andreas Rödder.

© Bert Bostelmann

Zwei Gefährdungen der Demokratie macht Andreas Rödder in dem Allensbach-Ergebnis aus: „Moralisierung zum einen, die immer unduldsam ist, weil sie dem Gegenüber die Berechtigung abstreitet. Und zum anderen eine Polarisierung zwischen einer identitären völkischen Rechten und einer identitätspolitischen kollektivistischen Linken.“ Das Problem sei, „dass die bürgerliche Mitte viel zu lange viel zu sprachlos geblieben ist“. Ihn wundert auch nicht, dass die Grünen-Anhänger laut der Umfrage am wenigsten „Meinungsklimadruck“ verspüren: Sie hätten „die höchste Kongruenz mit dem herrschenden Konsens“. Der Historiker: „Der Zeitgeist tickt grün.“

Wie lässt sich vermeiden, dass die Sprachlosigkeit noch größer wird?

Parlamentarismusforscher Höhne sieht den Schlüssel in den Händen der Bevölkerung. In Wahlkampfzeiten wie jetzt seien die Parteien besonders empfänglich für Botschaften: „Insofern kann ich nur an die Menschen appellieren: nutzt diese Chancen in den kommenden drei Monaten.“

Andreas Rödder empfiehlt den Parteien, im Interesse der Zweidrittel, die das Gendern ablehnen, sich dazu zu positionieren und die Debatte offensiv zu führen. Zudem brauche es dem britischen Historiker Timothy Garton Ash zufolge „robuste Zivilität, statt moralisierender Exklusion und einschränkender Political Correctness“. Nicht zuletzt brauche es „immer ganz individuell: Courage“.

Auch die Politik in die Pflicht nimmt schließlich Kubicki – sie müsse Vorbild sein und Respekt gegenüber dem politischen Mitbewerber wahren. Genau der sei in den vergangenen Jahren mehr und mehr verloren gegangen. „Das ,Negative Campaigning’, das leider immer häufiger angewendet wird, schadet unserer Demokratie“, warnt der Vizepräsident des Bundestages: „Denn es zerstört den Glauben an die vernunftbasierte und respektvolle Debatte als Ausgangspunkt verantwortungsvoller politischer Entscheidungen.“

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