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Teilnehmer an einer Demonstration von Rechtsextremisten und Reichsbürgern vor dem Brandenburger Tor und der Straße des 17. Juni.

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Extremismusforscher über Reichsbürger: „Wenn sich die Aufmerksamkeit legt, beginnt die gefährliche Phase“

Bei einer Razzia im Reichsbürger-Milieu wurden am Mittwoch insgesamt mehr als 20 Objekte durchsucht. Im schwäbischen Reutlingen wurde dabei auf einen Polizisten geschossen.

Herr Dittrich, bei einer Reichsbürger-Razzia in Reutlingen am Mittwochmorgen ist es zu Schüssen gekommen, ein SEK-Beamter wurde verletzt. Hat Sie diese brachiale Gewalt überrascht? 
Im Gegenteil. Wir sehen da seit Langem eine Eskalation. Es hat ja schon im Dezember eine große Razzia bei der „Patriotischen Union“ um Heinrich den XIII. Prinz Reuß gegeben, dem das Bilden einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird. Er und seine Mitstreiter planten offenbar den Umsturz. Außerdem läuft eine Anklage gegen die „Vereinten Patrioten“, die das deutsche Stromnetz großflächig lahmlegen wollten, um einen politischen Wandel zu erzwingen. Lange wurden diese Gruppierungen verharmlost und nicht ernst genommen, ihre Mitglieder als Spinner abgetan. Das rächt sich jetzt. 

Warum sehen wir jetzt diese Eskalation? 
Das ist eigentlich ein klassisches Muster, die Dynamik ist immer dieselbe. In schweren Krisen fühlen sich Anhänger von Verschwörungsideologien im Aufwind. Während der Coronakrise demonstrierten sie. Sie hatten das Gefühl, etwas bewegen zu können. Aber dann legt sich die öffentliche Aufmerksamkeit. Und das ist dann die eigentlich gefährliche Phase. Wer glaubt, dass es eine Weltverschwörung gibt, hat jetzt das Gefühl, nichts ändern zu können – und radikalisiert sich. Das ist sozusagen die Endphase. 

Aber wir befinden uns doch weiterhin in einer Krisenzeit.
Das stimmt, aber für die breite Masse der Bevölkerung verfängt nichts richtig. Nach dem Corona-Thema haben Verschwörungsmythologen versucht, mit dem „heißen Herbst“ Menschen zu mobilisieren, mit dem „Wutwinter“. Aber nichts zog, die großen Demos blieben aus. Hinzu kommt: Wir sprechen hier von einer kollektiven Wahnvorstellung, die lässt sich demokratisch nicht lösen. Deshalb meinen Reichsbürger, bis zum Äußersten gehen zu müssen. 

Woher kommt die Affinität zu Waffen? 
Weil der Krieg bei den Reichsbürgern eine ganz elementare Rolle spielt. Sie gehen von einem Krieg gegen die Bevölkerung aus, einer Bedrohung, an der sich auch der Staat beteiligt. Sie erkennen die Bundesrepublik als Staat nicht an. Diese Menschen glauben an eine gestohlene Wahl, daran, dass Medien und Politik von Marionetten gesteuert werden. Gegen diesen vermeintlichen Angriff wollen sie gewappnet sein, sich verteidigen können. Es kommt nicht von ungefähr, dass während der Pandemie sehr viele neue Waffenscheine angemeldet wurden. Auch bei der Razzia der „Patriotischen Union“ wurden Unmengen von Waffen beschlagnahmt, hauptsächlich legale wohlgemerkt. 

Ist die Zahl der Reichsbürger während der Pandemie gestiegen? 
Durch Corona sind sehr viele neue Leute in die Reichsbürgerszene gekommen. Das hat auch mit dem „Querdenken“-Gründer Michael Ballweg zu tun, der auf der Bühne auch Reichsbürger-Erzählungen verbreitet hat. Aber natürlich gingen mit der ganzen Corona-Pandemie auch jede Menge Unsicherheiten einher. Und für Menschen, die Struktur und Ordnung brauchen, ist es einfacher zu glauben, dass es eine Verschwörergruppe gibt, die unsere Welt zerstören will, als dass ein unberechenbares Virus aus China alles ins Chaos stürzt. Das sind klare Feinde, auf die man sich einschießen kann – und die Menschen, die nicht daran glauben, sind „Schlafschafe“. Und: Es gibt klare Handlungsempfehlungen, etwa damit, aufzuhören, Steuern zu zahlen. Was Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, eint, ist Selbstüberschätzung. Man denkt, man befände sich in der Mehrheit und ist völlig in seiner Blase gefangen. 

Wie viele Reichsbürger gibt es derzeit in Deutschland? 
Es wird von etwa 21.000 ausgegangen. Sicherheitsbehörden halten nur einen geringen Teil von ihnen für wirklich rechtsextrem, das sehen wir anders. Dass die Sensibilisierung für das Thema immer noch zu fehlen scheint, ist frustrierend. 

Was bereitet Ihnen besondere Sorgen? 
Zum einen, dass die Gruppierungen weiterhin nicht ernst genug genommen werden. Zum anderen die Unterbesetzung der Behörden. Das hat man auch bei dem Amoklauf in Hamburg gesehen. Dort hattes es anonyme Hinweise gegeben. Der Täter hatte niedergeschrieben, dass Hitler das Werkzeug Jesus gewesen sei. Hätte jemand die Aufzeichnungen gelesen, dann hätte der Anschlag verhindert werden können. 

Wie läuft eine Polizei-Ermittlung ab? Das hören Sie bei „Tatort Berlin“ – dem True-Crime-Podcast des Tagesspiegels. Alle Folgen finden Sie bei Spotify, Apple, Deezer und überall dort, wo es Podcasts gibt.

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