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Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz

© AFP/TOBIAS SCHWARZ

Die Graichen-Affäre und ihre Folgen: „Die grünen Träume von einer Kanzlerkandidatur sind erst mal ausgeträumt“

Robert Habeck war im Volk beliebt, galt schon als Kanzler in spe. Nun durchlebt er seine bisher tiefste Krise als Wirtschaftsminister. Das bringt auch die Grünen in Schwierigkeiten.

Aufstiege und Abstürze, Höhenflüge und niederschmetternde Niederlagen, Euphorie und Zusammenbruch – all das hat Hubert Kleinert schon oft erlebt bei und mit den Grünen. Kleinert, Politik-Professor in Gießen, ist Grüner der ersten Stunde, saß ab 1983 im Bundestag, war ein Vertrauter Joschka Fischers, er wurde oft als „Vordenker“ bezeichnet, etwa für Rot-Grün.

Man sollte also meinen, Kleinert könnte nach gut vier Jahrzehnten Arbeit bei, mit und über die Grünen nichts mehr schockieren. Von wegen. Fassungslos klingt der 69-Jährige, wenn er am Telefon über die Grünen im Frühling 2023 spricht, besonders über den Bundeswirtschaftsminister, dessen Politik, dessen Kommunikation.

Robert Habecks Ministerium, legt Kleinert los, habe die Dimension des Gebäudeenergiegesetzes unterschätzt. Die Kommunikation sei, freundlich ausgedrückt, „sehr ungeschickt“ gewesen, frei nach dem Motto: „Ihr müsst all eure Heizungen erneuern, und über die soziale Kompensation reden wir später noch mal.“

Wie kann man so unsensibel sein!

Hubert Kleinert (Grüne) über seinen Parteifreund Patrick Graichen

Für das Agieren von Habecks Staatssekretär Patrick Graichen fehlt Kleinert „jedes Verständnis“. Da unterschreibe Staatssekretär Graichen einen Förderbescheid von knapp 600.000 Euro für eine Organisation, bei der die eigene Schwester in Verantwortung stehe. „Wie kann man“, empört sich Kleinert, „so unsensibel sein!“

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Bloß nix sagen!

Mancher bei den Grünen dürfte derzeit ähnlich denken wie Hubert Kleinert, während die Funktionärsschicht zumindest öffentlich die eigene Zunge hütet. Vorerst jedenfalls. Unter Grünen-Abgeordneten lautet die Devise: Bloß nix sagen!

Kein Wunder. Denn im Zentrum der Affären steht Robert Habeck, der mehr ist als nur der Wirtschafts- und Klimaminister. Habeck ist Vizekanzler, und er galt vor wie nach der letzten Bundestagswahl als möglicher Kanzler in spe. Noch vor einem halben Jahr war Habeck hoch angesehener Spitzenpolitiker. Ein Kommunikations-Genie. Ein Mann, der das deutsche Energie-Schlamassel managt, und quasi nebenbei den Klimaschutz nach vorn bringt. Ein Grüner, der in die Mitte ausgreift und dort punktet. Einer, der „Kanzler kann“.

Und nun das. Was für ein Absturz. Viel zu lange hat Habeck an Graichen festgehalten, gegen den Rat von Parteifreunden, auch solchen, die ihm durch und durch wohlgesonnen sind. Der politische Flurschaden der Graichen-Affäre ist zudem noch gar nicht voll absehbar. Die nächsten Wahl-Umfragen kommen bestimmt. Der Niedergang der Bremer Grünen am letzten Sonntag geht gewiss auch auf Habecks Konto.

Wie lange geht das noch – halbwegs – gut? Und wie beschädigt ist Habeck?

Graichen, auch das gehört zur Wahrheit, hat Habecks schlechten Lauf mitnichten ausgelöst, er hat ihn nur beschleunigt. Seinen Nimbus als kommunikativer Superstar verlor Robert Habeck bereits vor über einem halben Jahr. Seine Gasumlage war handwerklich miserabel gemacht. Es kam im Spätsommer 2022 zum Zoff über den „Streckbetrieb“ deutscher Atomkraftwerke. Habeck wollte zwei von ihnen befristet länger laufen lassen, der Kanzler sprach ein Machtwort: Drei Meiler blieben in Betrieb, bis Ende April 2023.

Längst wollten die meisten Deutschen da die AKW länger betreiben, die Grünen gerieten in die Defensive, Habeck vorneweg, während seine interne Konkurrentin Annalena Baerbock publikumswirksam durch die Welt reiste. „Baerbock ist in ihrem Ansehen stabil, überrundet also Habeck bereits“, sagt der Wahlforscher Stefan Merz von Infratest Dimap. Nach den letzten Tagen fügt er hinzu: „Dieser Abstand könnte sich verstärken.“

Vor gut zwei Jahren überließ Habeck Baerbock die Kanzlerkandidatur, die sie sodann verzockte. Die Machtfrage bei den Grünen ist ungeklärt, es gibt kein strategisches Zentrum, anders als bei SPD und FDP. Stattdessen gibt es das „Camp Habeck“, das „Camp Baerbock“. Klar, wo die Stimmung gerade steigt – und wo nicht.

„Grüne Träume von der Kanzlerschaft ausgeträumt“

Habecks Höhenflug sei ja länger schon vorbei, sagt das Grünen-Urgestein Kleinert: „Jetzt steht er vor ganz schweren Zeiten.“ Es sei „gut möglich, dass die Grünen auf Wahlergebnisse von zehn bis 15 Prozent zurückfallen und sie auch bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Herbst schlechter abschneiden als beim letzten Mal.“ Kleinert geht sogar noch einen Schritt weiter: „Die grünen Träume von einer neuerlichen erfolgversprechenden Kanzlerkandidatur 2025 sind jetzt erst mal ausgeträumt“.

Doch Kleinert blickt nicht nur auf die Grünen, sondern aufs ganze Land. Der Vertrauensverlust für Habeck sei „hochgefährlich“ – und zwar bei weitem nicht nur für Habeck. Der Vizekanzler betreibe mit der Energiewende des Industriestaates Deutschland ohnehin „eine Operation am offenen Herzen“. Alle wissen, sagt Kleinert, „die Operation wird sehr teuer, aber niemand weiß, ob sie erfolgreich sein wird“. Solche Projekte erforderten Vertrauen: „Insofern ist Habecks Ansehensverlust nicht nur für die Grünen ein Problem, sondern für die gesamte Bundesregierung.“   

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