zum Hauptinhalt
Joschka Fischer und die Vermessung der Welt: Der große Grüne ist 75.

© imago images / Foto: Imago/Future Image

Joschka Fischer ist 75: Jede Faser gelebte deutsche Geschichte

Er war der erste grüne Außenminister und Vizekanzler. Und nicht Gerhard Schröders „Kellner“, bei Weitem nicht. Weil aus ihm ein Staatsmann wurde.

Ein Zwischenruf von Stephan-Andreas Casdorff

Er ist Staatsphilosoph, ohne je Philosophie studiert zu haben. Nicht an der Universität. Er ist ein Staatsmann geworden, indem er es im Leben an anderen studiert hat. Er ist ein Grüner, der in Haltung und Positionen seinen Grünen um Jahre voraus war. Sogar Sneakers trug Joseph Martin „Joschka“ Fischer schon vor allen anderen zu offiziellem Anlass: als er das erste Mal Minister wurde.

Ein Großer der deutschen Politik feiert 75. Geburtstag. Er, der alles das ist: ein ehemaliger Straßenkämpfer. Einer, der unterm Pflasterstrand in Frankfurt politische Bestätigung suchte. Der eine Lehre als Fotograf begann – die er 1966 abbrach. Ein Autodidakt, den sie später an die renommiertesten Unis holten: als Lehrenden.

Fischer, in Gerabronn in Baden-Württemberg geboren, wurde 1985 in Hessen Umweltminister und war im Bund von 1998 bis 2005 Außenminister und Vizekanzler. Von wegen nur „Kellner“ der Macht, als den Gerhard Schröder alle Grünen ansah – dieser Grüne konnte kochen. Anrichten. Auftischen. Neues, anderes schmackhaft machen. Das kann er bis heute. Seine Expertise ist gefragt. Inzwischen weniger bei den Grünen.

Er riskierte fast eine Revolte in seiner Partei

1995 hatte Fischer eine innerparteiliche Kontroverse ausgelöst, fast eine Revolte, als er sich vom Pazifismus der Partei löste und militärisches Eingreifen für die UN-Schutzzonen in Bosnien und Herzegowina befürwortete. 1999 unterstützte er maßgeblich die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg, dem ersten mit deutschen Soldaten seit 1945.

Auf dem Sonderparteitag in Bielefeld sagte Fischer seinerzeit: „Ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“ Er zahlte dafür mit einem Angriff auf ihn während des Parteitags.

Heute fordert seine grüne Amtsnachfolgerin mehr Waffen und mehr Hilfe für die Ukraine im Krieg gegen Russland. Und die Partei jubelt ihr zu.

Fischer war der, der sich 1995 entschieden gegen den ersten Tschetschenienkrieg Russlands wandte und der damaligen Bundesregierung Untätigkeit vorwarf. Zum zweiten Mal im Jahr 2000 aber sagte er, Russland dürfe nicht isoliert werden. So sah er das damals dann in der rot-grünen Bundesregierung. Seine Kritik von vorher fiel danach auf ihn zurück.

Fischer allerdings war auch der, der sich 2003 engagiert gegen den Irakkrieg der USA stellte. Hier ganz der Verfechter von Diplomatie – nicht immer diplomatisch. Unvergessen, wie energisch er auf die Zuhörer der Münchner Sicherheitskonferenz einredete, besonders auf Washingtons Verteidigungsminister Donald Rumsfeld: „Saddam Hussein ist ein furchtbarer Diktator.“ Aber, und er wechselte dafür ins Englische, „Excuse me, I am not convinced“, also: „Ich bin nicht überzeugt“.

Unumstritten war der Obergrüne nie

Unumstritten war Joschka Fischer nie, doch von da an war er außerdem berühmt. Der Ruhm hielt auch Jahre nach seinem Ausscheiden aus der großen Politik 2005. Bis heute berät er professionell große und kleine Unternehmen. Aber keine Oligarchen. Und keine Autokraten. Das trennt ihn von Gerhard Schröder, schon lange. Freunde sind sie nicht.

Vielleicht auch deshalb gehört Fischer seit Jahren zu einer Gruppe herausragender Persönlichkeiten, die immer wieder um politischen Rat gebeten werden. Die Fragen und Anfragen, wie gegen Radikalisierung und für Toleranz vorgegangen werden kann, kommen aus Europa, Israel, dem Nahen Osten insgesamt, der Welt darüber hinaus.

Joseph Martin Fischer, Joschka, der „letzte Live-Rock‘n‘Roller der Politik“, privat ein großer Romantiker, der fünfmal aus Liebe geheiratet hat. Einer, der viel erreicht hat und doch auch gescheitert ist.

Im Inneren wie im Äußeren: Seine Europa-Visionen waren groß, aber blieben genau das, Visionen. Im Nahen Osten konnte er, geachtet und ideenreich, trotzdem nichts erreichen. Und dass Schröder als Kanzler das rot-grüne Projekt aufgab, Neuwahlen herbeizwang – auch Fischer konnte ihn nicht davon abhalten.

Auf seine Weise ein Unvollendeter. Aber auch darin, alles zusammengenommen, mit jeder Faser gelebte deutsche Geschichte. Nur halt mal ganz anders.

Man stelle sich vor, dieser Joschka Fischer wäre noch Bundespräsident geworden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false