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Five children holding sprklers against evening sky model released Symbolfoto OCMF01086

© imago images/Westend61 / Oscar Carrascosa Martinez via www.imago-images.de

Ein Beispiel nehmen an Iris Haim: Wir brauchen eine Leitkultur des Verzeihens

Eine Mutter verzeiht den Menschen, die ihren Sohn getötet haben. In einer Zeit der Krisen können wir daraus lernen – und brauchen mehr Menschen mit dem Vermögen zu Vergeben.

Ein Kommentar von Julius Betschka

„Hallo an die Brigade Bislach, Bataillon 17, hier ist Iris Haim.“ Mit diesen Worten beginnt eine Mutter ihre Nachricht an die israelischen Soldaten, die ihren Sohn getötet haben. Yotam Haim, 28 Jahre alt, war seit dem 7. Oktober Geisel der Terror-Organisation Hamas. Er wurde von Soldaten der israelischen Armee irrtümlich erschossen. Sie hielten den Jungen und zwei andere israelische Geiseln für eine Bedrohung.

„Ich wollte Euch sagen, dass ich Euch sehr liebe und aus der Ferne umarme“, sagt Iris Haim in der am Mittwoch veröffentlichten Nachricht. Sie lädt die Soldaten in ihr Haus ein. „Wir wollen Sie mit eigenen Augen sehen und Ihnen sagen, dass das, was Sie getan haben, in diesem Moment wahrscheinlich das Richtige war“, sagt sie. Die Stärke, die in den Worten der Mutter steckt, ist so berührend wie unermesslich.

Hannah Arendt: Das Verzeihen ist Bedingung für eine freie Zukunft

Die Vergebung ist einer der stärksten Kräfte menschlichen Miteinanders. Vergebung gilt im Judentum, im Christentum und Islam als herausragende Eigenschaft Gottes. Im Judentum steht der höchste Feiertag, Jom Kippur, im Zeichen der Vergebung der Sünden.

Seit der Aufklärung sprechen europäische Philosophinnen und Philosophen lieber vom Verzeihen. Für Hannah Arendt etwa war das Verzeihen – es gibt ganze Bücher darüber – die essenzielle Kraft für eine freie Gestaltung der Zukunft. 

Iris Haim eröffnet diese Zukunft – inmitten dieses derzeit so aussichtslos erscheinenden Weltkonflikts – den israelischen Soldaten, die ihren eigenen Sohn töteten. Warum geht diese Kraft des Verzeihens der Gesellschaft heute so oft ab? Warum wurde das Verzeihen in Deutschland derart von Unerbittlichkeit ersetzt?

Man kann die Kraft der Vergebung nicht einfordern, aber als Vorbild nehmen

Die Kraft der Mutter Iris Haim ist nicht einforderbar. Aber man kann an diesem Beispiel doch gut veranschaulichen, zu was Menschen auch in Zeiten großer Trauer oder großen Zornes und großer Ausweglosigkeit in der Lage sind.

Krieg und Krisen bedrohen die westlich geprägte internationale Ordnung. Die multipolare Welt scheint sich rasend schnell zu einer anti-westlich gesinnten Gemeinschaft zu wandeln. Um diesen Trend zu drehen, wird auch der politische Westen auf Vergebung des globalen Südens angewiesen sein – etwa für die tiefen Wunden des Kolonialismus der Neuzeit.

Dieses Weihnachtsfest kommt dringender denn je

Der menschengemachte Klimawandel droht, die Erde auf menschenfeindliche Weise zu verändern. Manche predigen schon den Untergang, sprechen von einer letzten Generation. Gleichzeitig schwinden überall im Westen, nach und nach auch in Deutschland, die politischen Mehrheiten, um mit demokratischen Mitteln dagegen anzugehen. Dieses Weihnachtsfest, die Zeit der Ruhe und Besinnung, sie kommt wirklich so nötig wie lange nicht.

Nein, die deutschen Probleme gleichen nicht dem Nahostkonflikt. Aber wenn selbst in jenem unvorstellbaren Grauen Vergebung möglich scheint – warum sollte sie nicht auch in Deutschland besser gelingen?

Julius Betschka, Chefreporter im Hauptstadtbüro des Tagesspiegels

Statt sich aber zu besinnen, verzettelt sich die deutsche Republik: Die Bundesregierung streitet in verantwortungsloser Weise über Haushaltstechnik und lädt, statt den Konflikt untereinander zu lösen, die ökonomischen Lasten auf den Schultern der Menschen ab.

Der konservative Oppositionsführer Friedrich Merz verliert sich in Debatten über das, was er für deutsche Leitkultur hält: Rechtsstaat, Weihnachtsbäume und „das Bewusstsein von Heimat“. Merz belebt so eine 23 Jahre alte Debatte neu, die schon damals das Land spaltete statt zu einen.

Nein, die deutschen Probleme gleichen nicht dem Nahostkonflikt. Aber wenn selbst in jenem unvorstellbaren Grauen Vergebung möglich scheint – warum sollte sie nicht auch in Deutschland besser gelingen?

Vergebung. Das wäre ein besseres, vielleicht das einzig richtige Stichwort für die Definition von Leitkultur. Es ließe eine tiefe christliche, aufklärerische Prägung aufscheinen. Eine Leitkultur der Vergebung könnte eine sein, die uns nicht hinter jedem Wort das Übel der Welt zu vermuten lässt; die es uns ermöglicht, statt Unerbittlichkeit auch Nachsicht zu üben – die ein Miteinander trotz scharfer Unterschiede ermöglicht.

Menschen wie Iris Haim, zeigen, dass das möglich ist. Menschen wie sie braucht auch die Politik. Die Fähigkeit zu vergeben ist keine Kleinigkeit. Sie ist heute nötiger denn je.

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