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Die Spitzen der Partei im Mai 2017. Damals gab's noch was zum Lachen.

© Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Rechtspopulistische Identitätspolitik: Die AfD war einst national, jetzt ist sie antinational

Seit Corona gibt es die AfD doppelt - traditionell national mit Meuthen und hyperflexibel antinational mit Gauland, Höcke, Weidel. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Parteien, die sich national oder nationalistisch nennen oder mit diesen Begriffen kokettieren, propagieren eine stark ausgeprägte emotionale Bindung an die eigene Nation oder das eigene Volk. Ihre Anhänger glauben, dass Nationalstaaten besser sind als supranationale Organisationen.

Ein deutschnationaler Politiker hat ein kollektives Identitätsbewusstsein. Er behauptet, das Wohl aller Deutschen im Blick zu haben und ein hohes Maß an Loyalität gegenüber anderen Deutschen zu empfinden.

Nation und Volk sind ihm als Bezugsgrößen wichtiger als Religion, Klassen, Dynastien oder Stände. In diesem Sinne ist die AfD keine nationale Partei. Zu Beginn der Coronakrise war das anders.

Da hatte die AfD alle im Blick, die durch Covid-19 bedroht waren – Ärzte, Pfleger, Schüler, Eltern, Lehrer, Junge, Alte, Menschen mit und ohne Vorerkrankungen. „Zusammenstehen ist jetzt erste Bürgerpflicht“, sagte AfD-Co-Fraktionschef Alexander Gauland am 25. März im Bundestag, und er lobte die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel: „Die Regierungspolitik enthält viele Einsichten, die wir für richtig halten und die wir teilen.“

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Zwei Wochen vorher hatte der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen gefordert, Großveranstaltungen „kategorisch“ zu verbieten: „Selbst wenn diese globale Epidemie bei vielen Betroffenen einen milden Verlauf nehmen sollte“, sagte er, „ist sie für alte und vorerkrankte Patienten eine tödliche Gefahr.“

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AfD-Co-Fraktionschefin Alice Weidel warnte im Bundestag – unter Berufung auf den Berliner Virologen Christian Drosten -, dass sich bis zu 70 Prozent der deutschen Bevölkerung mit dem Virus anstecken könnten.

Umarmung der „Querdenker“

Aus Eintracht wurde Zwietracht. Inzwischen spricht Gauland von einer „Corona-Diktatur“ und umarmt die Aktivisten der „Querdenken“-Bewegung, darunter Rechtsextreme, „Reichsbürger“, Verschwörungsgläubige.

Meuthen dagegen kritisiert die Provokateure in den eigenen Reihen, mahnt Disziplin an und warnt vor aggressivem Auftreten und enthemmter Sprache. Meuthen verkörpert eine traditionell nationale Haltung, Gauland eine hyperflexible antinationale Haltung. Beim Parteitag Ende November in Kalkar wurde deutlich, wie tief der Riss ist, der die Partei durchzieht.

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Kein Wunder. Corona hat nationale, radikal-nationale und nationalistische Parteien weltweit in ein Dilemma gestürzt. Sollen sie für eine Strategie werben, die möglichst vielen ihrer Landsleute das Leben rettet? Müssen sie daher an Durchhaltewillen und Opferbereitschaft appellieren?

Oder sollen sie sich gemein machen mit Verharmlosern, Maskenverweigerern und dubiosen Straßenprotestlern? Müssen sie Tote und Infizierte, überfüllte Krankenhäuser und trauernde Angehörige als „Kollateralschäden“ akzeptieren?

Die Gauland-Weidel-Höcke-AfD hat sich für den zweiten Weg entschieden – und damit für eine Abkehr von jeglicher Art völkisch-nationaler Loyalität. Deutsche, die sterben – um es in deren Diktion auszudrücken -, werden für ein wenig Teilhabe an einem regierungskritischen Revolutionspathos in Kauf genommen.

Die angestrebte Destabilisierung des Systems hat Vorrang vor einer Drosselung der Zahl der Infizierten und Toten. Deutsches Leben, um es im völkischen Jargon vieler Rechtspopulisten zu sagen, zählt weniger als die Freiheit, Partys zu feiern oder maskenlos einzukaufen.

Angestrebt wird die Destabilisierung des Systems

Diese Entscheidung markiert den Wechsel von einer nationalen Politik zu einer Identitätspolitik. Die internationalen Vorbilder dafür sind Donald Trump und Jair Bolsonaro. Boris Johnson dagegen hat nach seiner eigenen Corona-Erkrankung den Primat des Lebensschutzes für seine Briten erkannt und akzeptiert.

Boris Johnson besucht das Guy's Krankenhaus in London, wo die ersten Impfungen in Großbritannien gegen das Coronavirus erfolgen.

© Frank Augstein/Reuters

Identitätspolitik – das war ursprünglich ein Schimpfwort von Rechten, die Linksliberalen vorwarfen, sich zu viel um Fragen der sexuellen und ethnischen Identität zu kümmern. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama meint, die Identitätspolitik sei mitverantwortlich für den Aufstieg des Rechtspopulismus und die Spaltung der Gesellschaft.

Doch längst haben Rechte die Methode kopiert. Trump etwa betreibe eine „Identitätspolitik auf Steroiden“, sagt Fukuyama.

Die Summe vieler Partikularinteressen

Der „weiße Mann“ als Leidtragender von Feministinnen und Rassismus-Gelehrten, die von säkularen Sozialisten bedrohten „christlichen Werte“, die Auflösung der traditionellen Kleinfamilie als Keimzelle der Gesellschaft, der Schutz der Polizei vor gewalttätigen Demonstranten: Das sind Schlüsselbegriffe, mit denen der noch amtierende US-Präsident diverse gesellschaftliche Gruppen anspricht, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, sich als Opfer zu fühlen. Aus der Summe solcher Partikularinteressen besteht Trumps Anhängerschaft.

Einen ähnlichen Kurs verfolgt die Höcke-Gauland-Weidel-AfD seit Corona und den Protesten der „Querdenker“. Deren extrem heterogene ideologische Ausrichtung erleichtert den Rechtspopulisten das Andocken.

Rhetorisch werden sie sich zwar weiter auf die „deutsche Nation“ oder das „deutsche Volk“ beziehen und Loyalität dazu einfordern. Faktisch aber treten sie diese Loyalität mit Füßen. Um das zu sehen, genügt ein Blick in die Intensivstationen der Krankenhäuser.

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