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AfD-Vertreter Alice Weidel, Björn Höcke und Tino Chrupalla.

© Collage/Montage: TSP/Katrin Schuber | dpa, freepik

Die AfD im Umfragehoch: Wo die Erosion der Demokratie beginnt

Immer mehr Deutsche halten die rechtsradikale AfD für eine normale Partei. Israels Ex-Botschafter Shimon Stein und der Historiker Moshe Zimmermann sind darüber alarmiert.

Ein Gastbeitrag von

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Diese Nachricht sorgt auch im Ausland, nicht nur in Deutschland, für Schlagzeilen: Laut jüngsten Umfragen befindet sich die rechtsradikale Partei der Deutschen, die AfD, im Aufwind. Hätten in diesen Tagen Bundestagswahlen stattgefunden, wären 17 bis 19 Prozent der Stimmen dieser Partei gegeben worden – und das im Land des „Nie wieder!“. Dies ist ein besonderes Armutszeugnis, denn es weist auf eine gravierende kollektive Erinnerungslücke hin: Zum „Nie wieder“ gehört auch nie wieder eine rechtsradikale Partei, nie wieder eine Partei, die „Schluss mit diesem System“ anstrebt.

Dabei kann man diesen Trend nicht einfach als konjunkturellen Ausdruck einer Proteststimmung abtun und verharmlosen: Im Jahre 2017 hat es eine rechtsradikale Partei zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik geschafft, in den Bundestag gewählt zu werden. Die Hemmschwelle war bereits damals überschritten und dieselbe Partei konnte bei den Bundestagswahlen 2021 mehr als zehn Prozent der Stimmen für sich gewinnen. Zudem konnte sie in den vergangenen Jahren in fast allen Landtagen Fuß fassen.

Shimon Stein (links) und Moshe Zimmermann.
Shimon Stein (links) und Moshe Zimmermann.

© Hardy Russ/p-a/dpa/HARDY RUSS

Besonders alarmierend ist der aus den Umfragen entstandene Befund, dass mehr als ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger die AfD bereits für eine ganz „normale“ beziehungsweise legitime Partei hält. Dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung wegen dieser Umfragewerte besorgt sind, weist zwar darauf hin, dass die Mehrheit noch immer für demokratische Werte steht, anderseits aber auch, dass diese Mehrheit erodiert. Diese Erosion verrät, dass die Erinnerung an die Katastrophe des 20. Jahrhunderts bei vielen vernebelt ist.

Der ausländische Beobachter ist verblüfft: Wie kann eine Partei von einer immer größeren Zahl der Bevölkerung gewählt und für „normal“ gehalten werden, wenn ihre Führer behaupten, „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über tausendjährigen Geschichte“ (Gauland am 2. Juni 2020) oder „Wir Deutschen […] sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“ (Björn Höcke am 17. Januar 2017).

Um die Erinnerungslücke zu schließen, muss nicht einmal auf das zurückliegende Jahrhundert geschaut werden. Es reicht bereits ein Blick auf die zwei vergangenen Jahrzehnte: Wohin Toleranz für einen aggressiven Nationalismus und Rechtsradikalismus führen kann, zeigen Ungarn oder Polen. Oder auch Israel, wo jüngst eine rechtsradikale Partei enttabuisiert wurde, zuerst in das Parlament einzog, dann in die Regierung aufgenommen wurde.

Diese Beispiele veranschaulichen, wie eine liberale Demokratie schleichend erodiert. Auch wenn die Bundesrepublik noch weit davon entfernt ist – an den Weg in die Katastrophe muss erinnert werden.

Die wehrhafte Demokratie darf eines nicht vergessen: Der Anschlag auf die Demokratie braucht Anlauf und setzt einen Gewöhnungsprozess voraus. Neben der Parole „Nie wieder“ hätte sich die Warnung „Wehret den Anfängen“ tiefer in die Erinnerung einprägen sollen. Die stattfindende Erosion des Widerstands gegen die Normalisierung des Prozesses zeigt, dass etwas mit der kollektiven Erinnerung an die früheren und jüngeren Präzedenzfälle nicht stimmt.

Erinnern bedeutet vor allem, sich auch mit Kausalität zu befassen. Was die Rechtsradikalen in Deutschland mit den alten und jungen Rechtsradikalen überall gemeinsam haben, ist der von ihnen erzeugte Eindruck, dass das demokratische System nicht funktionsfähig ist, beziehungsweise dass eine bessere Auslegung des Begriffs Demokratie benötigt wird. Als Antwort auf die Verunsicherung des Individuums boxen sie ein romantisches, ethnozentrisches Wir-Gefühl durch und suggerieren eindimensionale Feindbilder – die „Fremden“ einerseits und „die Eliten“ (die da oben) anderseits.

Sehr zu schätzen ist die Position aller deutschen Parteien, mit der AfD keine gemeinsame Sache zu machen.

Shimon Stein und Moshe Zimmermann

Während also Demokratien mit Krisen hadern, versuchen die rechtsradikalen Populisten, existierende Mechanismen zur Überwindung von Krisen zu diskreditieren und Ängste zu schüren, um die Bevölkerung dazu zu motivieren, bei ihnen Lösung und Zuflucht zu finden. Am besten hat es am 4. März 1933 der amerikanische Präsident Roosevelt zusammengefasst: „The only thing we have to fear is fear itself.“ Dieser Satz stimmt auch heute und auf die Bundesrepublik übertragen.

In dem Moment, in dem der Normalbürger das Vertrauen zu traditionellen Parteien verliert, deshalb Nichtwähler oder gar Wähler einer rechtsradikalen Partei wird, beginnt die Erosion der Demokratie. Daran lässt die historische Erfahrung erinnern. In Deutschland spielt nun die Unzufriedenheit mit der Ampel-Koalition, aber auch mit den in der Opposition sich befindenden „System-Parteien“ eine unübersehbare Rolle.

Die Entscheidung, Befürworter von „Schluss mit diesem System“ zu unterstützen, weist darauf hin, dass der Prozess der Zerstörung der Demokratie im Gange ist. Erst recht als Israelis, die mit einer ähnlichen Konstellation im eigenen Land konfrontiert sind, dürfen wir Erinnerungen abrufen, die der Mahnung „Nie wieder!“ Substanz verleihen.

Sehr zu schätzen ist also die Position aller deutschen Parteien, mit der AfD keine gemeinsame Sache zu machen. Wie es anders kommt, wenn die Schranken fallen, kann man aus der Erfahrung mehrerer EU-Staaten – aber auch Israels – entnehmen. Ein entschiedenes und deutlich ablehnendes Verhalten gegenüber rechtsradikalen Parteien ist das Gebot der Stunde. Farbe bekennen, bevor es zu spät ist.

Talkshows, an denen auch Rechtsradikale teilnehmen, helfen kaum. Denn ein Fußballspiel gegen eine Mannschaft, die eigene Spielregeln hat, ergibt wenig Sinn. Hartnäckige Massendemonstrationen beziehungsweise eine entschlossene Zivilgesellschaft – das haben wir mittlerweile in Israel gelernt – machen deutlich, worum es geht. Sie rütteln relevante historische Erinnerungen auf und können auch einen realen Effekt haben.

Die Vertreter des „Systems“ müssen sich also um Aufklärungsarbeit bemühen, statt in Lethargie zu versinken. Gleichzeitig aber müssen sie ihre bisherige Politik hinterfragen, die den Weg für den Erfolg der Rechtsradikalen ebnete.

Dass ausgerechnet die AfD eine besondere Liebe zu Israel vortäuscht, ist kein Grund, die Gefahr dieser Partei für die Demokratie zu relativieren. Es ist eher umgekehrt: Vor einer Partei, die die Nähe zu rechtsradikalen Kräften in Israel sucht, dazu Israel als Chiffre benutzt, um gegen die EU, gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik vorzugehen und für eine ethnozentrische Politik Stimmung zu machen, muss mit Nachdruck gewarnt werden. Daran ändert auch der Lobgesang der AfD-Abgeordneten während der feierlichen Sitzung zum 75. Geburtstag des Staates Israel nichts.

Auch hier sind historische Erinnerungen relevant, aus Zeiten, in denen antisemitische Parteien Sympathien für den Zionismus bekundeten, nur um die Juden im eigenen Land „loszuwerden“. Dass im rechten Flügel der israelischen Politik Kontakte zur AfD entstanden, überrascht nicht – auch dort offenbart sich eine enorme Erinnerungslücke, die nicht allein die Toleranz gegenüber der AfD erklärt, sondern auch den Anschlag auf die eigene Demokratie.

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