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Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer und sein „Tagesticket“

© Yann Schreiber/AFP

Tests, Perspektive, Maßnahmenmix: Das sind die Argumente der deutschen Lockerungs-Vorreiter

Kanzlerin Merkel mahnt zur Vorsicht, einige Länder und Städte wollen ihre Öffnungsstrategien hingegen beibehalten. Doch wie rechtfertigen sie diese?

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte es klargemacht: Es sei momentan nicht die richtige Zeit für Lockerungen und Modellprojekte. Stattdessen fordert sie ein rigoroses Durchsetzen der Maßnahmen in den Bundesländern – bei mehr als 100 Corona-Fällen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen eben auch die beschlossene „Notbremse“.

Das sehen die Lockerer in den Ländern und Städten naturgemäß anders. Die Ministerpräsidenten und Oberbürgermeister haben jeweils ihre eigene Sicht, weshalb Lockerungen trotz hoher oder steigender Inzidenzen vertretbar sind. Doch welche Argumente haben sie auf ihrer Seite? Ein Überblick.

Tübingen: Das Testobjekt

Das seit Wochen wohl bekannteste Lockerungsprojekt ist das Tübinger Modell von Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne). Dieses macht möglich, dass die Menschen nach einem Test mit einem „Tagesticket“ in der Innenstadt ungehindert einkaufen und flanieren können. Die Intention dahinter, so Palmer: „Wir wollen herausfinden, ob wir mit unserer Teststrategie die Pandemie besser unter Kontrolle bekommen, als andere Regionen mit Schließungen.“

Im Kreis Tübingen verdreifachte sich die Sieben-Tage-Inzidenz zuletzt Tagesspiegel-Zahlen zufolge innerhalb weniger Tage von 35 auf weit über 100. Palmer wehrt sich allerdings gegen Stimmen, die den Anstieg auf die Lockerungen zurückführen. Außerdem liegen die Inzidenzen in der Stadt selbst niedriger, verteidigt er sich. Am Sonntag lag sie bei knapp 70.

Die Bewohner Tübingens dürfen mit einem „Tagesticket“ auch wieder die Außengastronomie besuchen.
Die Bewohner Tübingens dürfen mit einem „Tagesticket“ auch wieder die Außengastronomie besuchen.

© Imago/Ulmer

Ihm mache das keine Sorgen, sagte Palmer „Stuttgarter Nachrichten“ und „Stuttgarter Zeitung“. Der Anstieg gehe eher nicht aufs Einkaufen oder den Theaterbesuch zurück. Problematisch seien jene, die abends in der Stadt Party machten. Ein weiterer Grund sei ein Ausbruch in der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Tübingen gewesen. „Das hat meiner Ansicht nach nichts mit unserer Öffnungsstrategie zu tun“, sagte Palmer.

Außerdem verwies der Oberbürgermeister darauf, dass ein Teil der höheren Inzidenzzahlen durch die mit der Öffnung verbundene intensive Testung zu erklären sei. An den öffentlichen Teststationen, die jeder Passant für die Innenstadt durchlaufen muss, seien viele unentdeckte Infektionen gefunden worden.

Saarland und Schleswig-Holstein: Eine Sache der Perspektive

Das Saarland ging Kanzlerin Merkel bei ihrem TV-Auftritt in der ARD-Sendung „Anne Will“ sogar direkt an. Die offensive Ankündigung eines Modellprojekts in einem ganzen, wenn auch kleinen, Bundesland hatte sie besonders gestört. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt dort landesweit bei 80.

Trotz der Merkel-Kritik hält Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) an seinem Saarland-Modell fest. „Selbst wenn wir wegen exponentiellem Wachstum einer 3. Welle nicht zum 6.4. starten könnten – das Saarland-Modell wird kommen“, schrieb Hans am Montagabend via Twitter.

Ministerpräsident Tobias Hans und sein Saarland-Modell
Ministerpräsident Tobias Hans und sein Saarland-Modell

© imago images/BeckerBredel

Seine Intention dahinter: „Die Menschen wollen Perspektive; sind bereit, dafür was zu tun und weiter zurückhaltend zu sein.“ Zuvor hatte er bereits gesagt: „Wir sorgen mit dem Saarland-Modell dafür, dass Aktivitäten, die im Moment drinnen stattfinden, im Verborgenen, ins Freie kommen.“

Es handele es sich „um eine sehr vorsichtige Strategie“. Der Slogan seines Projekts: Mehr Tests, mehr Impfen, mehr App, mehr Freiheit, mehr Umsicht. Läuft alles nach Plan, will Hans in seinem Bundesland vom 6. April an Kinos, Theater, Fitnessstudios und die Außengastronomie wieder öffnen. Voraussetzung für Gäste, Besucher und Nutzer ist lediglich ein tagesaktueller negativer Schnelltest.

Zur Seite sprang dem Saarland der Gesundheitsminister Schleswig-Holsteins, Heiner Garg (FDP). Sein Bundesland hat eine noch niedrigere Sieben-Tage-Inzidenz vorzuweisen als das Saarland, derzeit unter 70. Modellprojekte erlaubt die Landesregierung allerdings erst ab dem 19. April, wenn die betroffene Region mindestens eine Woche lang unter der 100er-Inzidenz liegt.

Er machte im „Deutschlandfunk“ deutlich, dass die lokalen Lockerungen nicht dazu da seien, die geltenden Regeln zu unterlaufen. Schließlich hätten die Gesundheitsämter das letzte Wort und jederzeit die Möglichkeit, die Modellversuche abzubrechen.

Auch er sprach an, wie wichtig eine Perspektive sei. Selbst wenn die Öffnungsschritte wegen der dritten Infektionswelle später losgingen, seien Modellprojekte mit Blick auf den anstehenden Sommer unter Pandemiebedingungen sinnvoll, so Garg.

Berlin: Der „Maßnahmenmix“

Die Bundeshauptstadt war neben dem Saarland der zweite Ort, den sich Kanzlerin Merkel bei „Anne Will“ vorgenommen hatte – und sogar noch konkreter. „Ich weiß jetzt wirklich nicht, ob Testen und Bummeln, wie es jetzt in Berlin heißt, die richtige Antwort auf das ist, was sich zur Zeit abspielt“, sagte Merkel.

Sie zielte darauf ab, dass Berlin mit einer Inzidenz jenseits der 150 die Voraussetzungen für die beschlossene „Notbremse“ längst erfüllt, sie aber nicht umsetzen will. Stattdessen verkündete der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), dass Berlin die Corona-Pandemie mit einer Doppelstrategie in den Griff bekommen will.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD).
Der Regierende Bürgermeister Michael Müller verteidigt die Doppelstrategie in Berlin.

© Michael Kappeler/dpa

Zwar sind die geplanten Modellprojekte für Kultur, Sport und möglicherweise Gastronomie vorerst zurückgestellt. Doch werden in Berlin Lockerungen etwa in Handel und Kultur durch verschärfte Regeln vor allem beim Testen und der Maskenpflicht ergänzt. Ab Mittwoch soll das gelten.

Berliner:innen müssen demnach einen negativen Corona-Test zum Einkaufen in Geschäften, für Besuche im Friseur- oder Kosmetiksalon, in Museen und Galerien vorweisen. Für Unternehmen kommt eine Verpflichtung, ihren nicht zu Hause tätigen Beschäftigten zweimal die Woche kostenlose Tests anzubieten. Zudem könnten Betriebe bald zu mehr Homeoffice-Angeboten gezwungen werden.

Ein einfacher Weg wäre aus Müllers Sicht gewesen, den Beschluss zur „Notbremse“ eins zu eins umzusetzen. Der Berliner Senat habe sich aber zu einem differenzierteren Weg entschlossen.

„Es gibt nicht den einen Königsweg, und es gibt nicht die eine Maßnahme, die jedes Problem löst, sondern es ist ein Abwägungsprozess“, erklärte Müller. „Wir glauben, dass wir in diesem Abwägungsprozess mit diesem Maßnahmenmix und der Akzentverschiebung in Richtung Testen einen neuen Weg beschreiten, aber einen sehr verantwortlichen, der auch viele Menschen schützen kann.“

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