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Nach der Wahl ist vor der Wahl: Zehn Kandidaten sind allerdings ausgeschieden, nur Macron und Le Pen in der Stichwahl.

© Daniel Cole/AP/dpa

„Das ist ein Albtraum“: Wie eine Freundesgruppe den französischen Wahlabend erlebte

Bier, Wein und die Liveübertragung: Fünf Freunde hoffen auf den Einzug ihres Favoriten in die Stichwahl. Ein Abend voll Bangen und Buhrufen.

Für die fünf Freunde geht es um alles oder nichts. Virginie Paoli, Michel Daffa, Michel Sidoroff und die Schwestern Nicole und Michele Sigal sind am Sonntagabend alle in die Bar „Lou Pascalou“ im gekommen, um den Wahlabend zu verfolgen. Die fünf Freunde sitzen an einem kleinen roten Tisch vor Bier und Rotwein. Sie haben sich so gesetzt, dass sie alle die große Leinwand sehen können, an dem die Liveübertragung gezeigt wird.

Noch sind es anderthalb Stunden, bis die erste Hochrechnung erwartet wird. Die Bar, in die sie gekommen sind, liegt im alten Arbeiter- und Künstlerviertel Ménilmontant im Norden von Paris. Schon immer war diese Gegend links geprägt – und sie ist es, dem Publikum an diesem Abend nach zu urteilen, immer noch.

Paoli, Daffa, Sidoroff und die Schwestern Sigal sind zwischen 50 und 65 Jahren alt, sie alle sind „aus dem Künstlermilieu“, wie sie sagen und haben alle den linken Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon gewählt. Und für die fünf steht schon vor dem Ergebnis an diesem Abend fest: Sie werden nicht für Emmanuel Macron stimmen, wenn er mit Marine Le Pen in der Stichwahl landet.

„Macron war ein Experiment. Aber er hat unsere sozialen Errungenschaften attackiert“, sagt Nicole Sigal. Die Schriftstellerin, rote Haare, grüne Daunenjacke, hat schon vor fünf Jahren nicht für Macron gewählt, weder im ersten, noch im zweiten Wahlgang.

„Die Mittelschicht ist verzweifelt“

Mélenchon ist für die Freundesgruppe der einzige, der sich gegen den Trend stellt, den Sozialstaat weiter „herunter zu wirtschaften“. „Das ist ja ein Trend, den es in ganz Europa gibt, auch bei euch in Deutschland“, sagt Michel Sidoroff. Und wenn Mélenchon nicht in die Stichwahl einzieht, sondern die rechtsextreme Le Pen? Was wäre, wenn sie gar Präsidentin würde? Ein Teil der Gruppe zuckt mit den Schultern.

Geben sich kämpferisch: Virginie Paoli, Michele und Nicole Sigal, Michel Sidoroff und Michel Daffa am Wahlabend.
Geben sich kämpferisch: Virginie Paoli, Michele und Nicole Sigal, Michel Sidoroff und Michel Daffa am Wahlabend.

© Anna Thewalt/Tsp

Michel Sodoroff sagt: „Das ist dann ihr Problem.“ Der Regisseur, der viel für das Radio arbeitet, meint auch: „Das würde zu einer sozialen Krise führen, das könnte interessant werden.“ Vielleicht sei es das, was Frankreich brauche.

Virginie Paoli, lange blonde Haare, schwarze Jacke, beugt sich auf dem Tisch nach vorne. Sie muss laut reden – die Bar füllt sich allmählich. Noch läuft der Fernseher stumm. „Die Mittelschicht ist verzweifelt“, sagt die visuelle Künstlerin. „Ich spüre das sehr stark.“ Zwar reiche ihr Geld noch bis zum Ende des Monats. Aber sie frage sich, wie lange noch.

Buhrufe für Zemmour - und Macron

Auch Michel Daffa sieht das ähnlich. Er arbeitet als Architekt, baut vor allem Gebäude für Sozialwohnungen. „Macron ist der Präsident des Geldes“, sagt er. Die Gruppe unterhält sich über die Arbeit, die nicht mehr anständig bezahlt werde. Und die Allgemeinmediziner, die nicht mehr ersetzt werden. „Wir kennen viele, die erzählen, dass ihre Ärzte in Rente gehen und niemand nachkommt“, sagt Paoli.

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Kurz vor 20 Uhr wird der Fernseher laut gestellt. Wenn der Reporter aus der Parteizentrale Emmanuel Macrons gezeigt wird, buht nicht nur der Tisch, sondern die ganze Kneipe. Lauter gebuht wird nur bei Éric Zemmour. Die zehn Sekunden vor 20 Uhr zählen die Gäste in der Kneipe laut runter, wie an Silvester. Dann werden die Ergebnisse angezeigt.

Macron an Platz eins, weiter vorne als zuletzt vermutet, und Le Pen an Platz zwei. In der Kneipe wird gejohlt: In viele Buhrufe scheinen sich einige Jubelschreie zu vermischen. Der Tisch mit den Freunden buht, in den Gesichtern zeigt sich eine Mischung aus Enttäuschung und Wut. Als Mélenchons Ergebnis angezeigt wird, klatschen sie.

Danach hat die Freundesgruppe nicht viel zu sagen: „Das ist ein Albtraum“, sagt Nicole Sigal. „Das ist die soziale und demokratische Zerstörung.“ Doch die Künstler bleiben dabei: Für Macron wollen sie nicht stimmen. Dass Le Pens Regierung schlimmere Auswirkungen für Ausländer und Migranten hätte, sieht Sidoroff nicht so. Auch Macron habe eine harte Migrationspolitik verfolgt und rassistische Gesetze verabschiedet.

Schon zehn Minuten nach der Angabe der ersten Hochrechnung läuft die Fernsehübertragung in der Bar wieder stumm, stattdessen hat der Barkeeper Musik angemacht. Nicole Sigal lehnt sich in ihrem Stuhl zurück: „Jetzt bleibt uns nur der Widerstand auf der Straße.“

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