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Oppositionsführer Jeremy Corbyn bringt ein zweites Referendum ins Brexit-Spiel: Ein echter Perspektivwechsel oder taktischer Winkelzug?

© AFP

Labour fordert zweites Brexit-Referendum: Corbyns Vorstoß ist nur Taktik

Parteichef Corbyn ist für eine zweite Brexit-Abstimmung, um die Austrittswelle bei Labour zu stoppen. Er legt sich aber nicht auf "Remain" fest. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Jeremy Corbyn lässt viele Deutsche wieder hoffen. Der Labour-Chef unterstützt plötzlich ein zweites Referendum. Laut Umfragen könnte es diesmal für eine knappe Mehrheit im Wahlvolk für "Remain" reichen. Wird der Brexit in letzter Minute abgesagt? Und was können Deutschland und die EU tun, um eine solche Wende zu unterstützen?

Corbyn möchte die Austrittswelle stoppen

Dass die Briten bleiben, ist zwar nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich. Deutsche und englische Herzen schlagen in Sachen Europa unterschiedlich. Für die Deutschen ist europäische Integration die Lehre aus ihrer Geschichte. Die Briten wollen ihre Eigenheiten und ihre Souveränität nicht aufgeben. Corbyn strebt keinen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU an. Er hat sich bewegt, um die Austrittswelle aus seiner Partei zu stoppen. Als Oppositionschef muss er zudem eine erkennbare Alternative zu Premierministerin Theresa May anbieten.

Aber er hat es nicht eilig mit einem zweiten Referendum, obwohl die Zeit drängt. Es bleiben noch vier Wochen und zwei Tage bis zum Brexit-Stichtag am 29. März. Nicht diese Woche will er den Antrag im Parlament stellen, auch nicht nächste, sondern Mitte März, heißt es in der Labour-Partei. Das klingt nun nicht gerade nach einem entschlossenen Gegenkurs zum Austrittsvertrag, den May den Tories durch Änderungen beim irischen "Backstop" schmackhaft machen möchte.

Corbyn kann sich und seine Partei nicht auf das Verbleiben in der EU festlegen. Erstens ist er persönlich ein EU-Skeptiker - manche sagen sogar, ein "EU-Hasser". Zweitens ist auch Labour in der Europafrage gespalten. Zahlreiche Abgeordnete der Partei kommen aus Wahlbezirken, die beim ersten Referendum für den Austritt gestimmt haben, oft mit großer Mehrheit. Das gilt ganz besonders für die Midlands und den Norden Englands. Würde Corbyn die Partei trotz seiner Antipathien gegen die EU auf einen Weg zur Verhinderung des Austritts festlegen wollen, würde er mehr Abgeordnete durch Austritt verlieren, als er durch sein aktuelles taktisches Manöver zu halten versucht.

Ziel des Balanceakts ist eine Zollunion

Und selbst wenn die Partei den Vorschlag einer zweiten Abstimmung mittragen wollte, könnte sie das nicht durchsetzen. Labour hat keine Mehrheit im Parlament. Von den Tories werden die nötigen Stimmen wohl kaum kommen. Eine neue Abstimmung würde den Streit zudem nicht befrieden. Umfragen belegen: Die Briten sind nicht massenhaft von Brexit zu „Remain“ umgeschwenkt. Bestenfalls gäbe es eine knappe Mehrheit für das Bleiben. Am Tag danach würde die Kampagne für eine dritte Volksbefragung beginnen.

Corbyn vollbringt mit seinem Vorstoß einen Balanceakt. Er muss Theresa Mays "Deal" etwas entgegensetzen, ohne Labour auf die "Remain"-Position festzulegen. Dürften Corbyn und Labour sich eine Lösung aussuchen, mit der sie am ehesten leben können, dann wäre es ein EU-Austritt, nach dem Großbritannien in einer Zollunion mit der EU bleibt. Das ist im Londoner Parlament heute nicht mehrheitsfähig. Deshalb bemüht sich Corbyn, die Alternativen neu zu definieren.

Gegenwärtig gibt es für keinen Ausweg aus der Blockade eine absolute Mehrheit in Parlament: nicht für Mays Deal, nicht für "Remain", schon gar nicht für einen "No Deal"-Brexit, aber auch nicht für ein zweites Referendum. Die Vorlieben verteilen sich auf zu viele Optionen. Eine Mehrheit wird es nur geben, wenn das Parlament vor eine Entweder-Oder-Frage gestellt wird.

Labour nutzt das Referendum als Schreckgespenst

Mays Interesse liegt darin, diese binäre Frage so zu definieren, dass das Parlament nur die Wahl hat zwischen ihrem nachgebesserten Austritts-Deal oder einem "No Deal"-Brexit. Den "No Deal" nutzt sie als Schreckgespenst, um die Tories auf ihren Austrittsvertrag festzulegen.

Corbyn möchte das Parlament unter Druck setzen, sich in Richtung des Labour-Wunschs Austritt mit nachfolgender Zollunion zu bewegen. Er benutzt die Drohung mit einem zweiten Referendum, das die Tory-Mehrheit auf keinen Fall möchte, als sein Schreckgespenst, um die Zollunion als kleineres Übel und sinnvollen Kompromiss aufzubauen.

Deutschland sollte die neue Dynamik unterstützen, ohne in Wunschdenken zu verfallen. Der Referendum-Vorstoß wird wohl nicht dazu führen, dass die Briten in der EU bleiben. Für die deutschen Interessen aber wäre die Zollunion der derzeit beste Ausweg aus der verfahrenen Lage.

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