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Abgeordnete im britischen Unterhaus.

© House Of Commons/PA Wire/dpa

Britisches Parteisystem zerfällt: Ironische Pointe der Geschichte

Brexit: Die Briten wollten bleiben, wie sie sind – nun verändert der EU-Austritt die Parteienlandschaft. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Fünf Wochen vor dem Brexit-Stichtag gewinnt eine Revolte gegen das politische System Großbritanniens an Dynamik. Nahezu täglich treten Abgeordnete aus den beiden großen Parteiblöcken, Tories und Labour, aus. Sie schließen sich zu einer neuen Gruppe im Zentrum zusammen. Ihnen machen die ideologische Starre der beiden Lager Angst und deren Unfähigkeit, den Austritt aus der EU geordnet über die Bühne zu bringen. Sie stemmen sich gegen das drohende Chaos, fordern pragmatische Kompromisse.

Die neue Bewegung hat noch keine klaren Konturen. Man sollte der Versuchung widerstehen, sie voreilig als „proeuropäisch“ einzuordnen. Oder gar zu hoffen, dass sie den Brexit noch verhindert. Dafür kommt sie zu spät. Aber sie wird nach Schätzungen britischer Insider schon bald die drittstärkste Kraft im Unterhaus sein.

Diese Reaktion auf die Brexit-Verwerfungen bestätigt einmal mehr: Die Geschichte offenbart eine Neigung zu ironischen Wendungen. Im Verlauf großer historischer Umwälzungen wird die ursprüngliche Absicht der politischen Urheber in ihr Gegenteil verkehrt. Revolutionen fressen ihre Kinder. Der Sturm auf die Bastille endete in der nächsten Monarchie, nun unter Napoleon. Und der Brexit, dessen Hauptziel es war, zu verhindern, dass die Eigenheiten des Vereinigten Königreichs – vom Parteiensystem bis zur britischen Ausprägung des Rechtsstaats – durch den Integrationsdruck der Europäischen Union überformt werden, endet über kurz oder lang in der Zerstörung des traditionellen politischen Systems.

Ein Riss geht durch die Parteien

Die britische Parteienlandschaft hat sich als unfähig erwiesen, auf veränderte Kernfragen der Zeit zu reagieren und sich anzupassen. Sie spiegelt überholte Trennlinien der Gesellschaft wider: Rechts gegen Links, Oberschicht gegen Unterschicht, Bosse gegen Arbeiter. Großbritannien ist längst eine Dienstleistungsgesellschaft, die Arbeiterklasse wird immer kleiner. Die großen Zukunftsfragen sind andere: Was ist die optimale Arbeitsteilung zwischen dem Nationalstaat und EU-Europa? Wie schützt man berechtigte wirtschaftliche Interessen, ohne in Protektionismus zu verfallen? Weder die Tories noch Labour haben überzeugende Antworten.

In der aktuellen Kernfrage – wie halten wir es mit EU-Europa? – ist die britische Gesellschaft in etwa gleich große Lager gespalten. Ein zweites Referendum würde deshalb keinen Frieden bringen. Der Riss geht durch beide große Parteien. Der altlinke Labourchef Jeremy Corbyn kann sich nicht zu einem klaren Gegenkurs zu den Konservativen durchringen. Auch er wirkt aus der Zeit gefallen. Und er lässt zu, dass in seiner Partei radikale Stimmen lauter werden, darunter unverhüllter Antisemitismus. Rechts wie links befördert der Wirrwarr um den Brexit die Extremisten.

Europa als Schicksalsfrage

Wie konnte es soweit kommen? Wenn die Europafrage zur Schicksalsfrage wird, müssten in einer idealen Welt eine Pro- und eine Kontrapartei im Parlament entstehen. Das geschieht aber nicht. Denn Großbritannien praktiziert, anders als Deutschland, Mehrheitswahlrecht. Das Wahlrecht hat enorme Auswirkungen auf das Parteiensystem. Mehrheitswahlrecht fördert die Herausbildung von zwei großen Lagern. Es verhindert die Entstehung neuer Parteien, die Anliegen aufnehmen, die in den zwei Blöcken nicht repräsentiert waren.

In Deutschland konnten die Grünen und die AfD wegen des proportionalen Wahlrechts in die Parlamente einziehen; sie mussten dafür nur fünf Prozent erreichen. Aus dem gleichen Grund konnte Die Linke überleben. Dem Mehrheitswahlrecht fehlt diese Flexibilität. Es dauerte unendlich lange, bis den britischen Liberaldemokraten der Sprung ins Unterhaus als dritte Kraft gelang. Dort führen sie ein Schattendasein. Die Zentristen, die jetzt bei Labour und den Tories austreten, wollen den Liberaldemokraten aber auch nicht beitreten und diese stärken. Sie haben die berechtigte Hoffnung, dass sie in wenigen Monaten die stärkere Gruppe sind.

Der Zorn entlädt sich

Das britische System konnte den Unmut über die Nicht-Repräsentation der aktuellen nationalen Schicksalsfrage nicht befrieden. So ist der Zorn weiter angewachsen und entlädt sich nun revolutionär. Tory-Premier David Cameron hatte das EU-Referendum in der Hoffnung angesetzt, er könne so die Spaltung seiner Partei aufhalten. Die von ihm entfesselte Dynamik wird die Tories entmachten und, mehr noch, sie wird das herkömmliche Parteiensystem implodieren lassen.

Im Prinzip ist das zu begrüßen – wären da nicht die Risiken, die diese überfällige innerbritische Revolte für Deutschland und für Europa heraufbeschwört. Großbritannien findet keinen geordneten Ausweg aus der selbstgeschaffenen Notlage. Revolutionen fressen nicht nur ihre Kinder, sondern oft auch unbeteiligte Zuschauer.

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