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Bauarbeiter im Wohnungsbau Neubaugebiet in Hannover-Kronsrode.

© Imago/Rust

Ausbeutung ausländischer Beschäftigter: „Wir haben ein massives Problem in der Rechtsdurchsetzung“

Schlecht bezahlt, schlecht abgesichert: Der Sachverständigenrat für Integration und Migration hat die Lage ausländischer Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor untersucht. Ein Interview mit dem Studienleiter.

Herr Kolb, beuten Arbeitgeber in Deutschland ausländische Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor systematisch aus?
Nicht alle, nicht generell. Aber es ist mehr als ein Einzelfallphänomen. Ausländische Arbeitskräfte sind im Niedriglohnsektor überrepräsentiert. Sie werden oft schlecht bezahlt, haben eine mangelnde soziale Absicherung, ein hohes Arbeitsaufkommen und nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Weiterbildung.

Der wissenschaftliche Stab des Sachverständigenrats für Integration und Migration legt nun eine neue Studie zum Thema vor. Was ist das zentrale Ergebnis?
Das deutsche Recht ist allgemein recht arbeitnehmerfreundlich. Aus meiner Sicht gibt es da gar nicht so viel Änderungsbedarf – die rechtlichen Rahmenbedingungen sind gut. Aber wir haben ein massives Problem in der Rechtsdurchsetzung.

Das heißt im Ergebnis: Ausländerinnen und Ausländer laufen Gefahr, verstärkt um ihre Rechte und zum Beispiel um ihren fairen Lohn gebracht zu werden, weil sie etwa kein Deutsch können und sich mit den hiesigen Regeln nicht so gut auskennen.

Um welche Fälle geht es Ihnen?
Es geht etwa um einen Erntehelfer, der für sechs Monate in Deutschland arbeitet und dann zurück in sein Herkunftsland geht – zum Beispiel nach Osteuropa. Wenn ihm sein Lohn nur für vier Monate ausgezahlt wird, hat er natürlich die Möglichkeit zu klagen. Aber die Hürden, aus dem Ausland ein Gerichtsverfahren anzustrengen, liegen enorm hoch.

Lässt sich quantifizieren, wie verbreitet solche Probleme sind?
Es gibt Studien dazu, die aber allesamt schwierig zu interpretieren sind. Der Grund: Es gibt ein sehr großes Dunkelfeld. Wenn die Kontrollen intensiviert werden, erhöhen sich auch die Fallzahlen. In unserem Forschungsprojekt ging es nicht darum, Zahlen zu erheben. Vielmehr wollten wir über qualitative Forschung herausfinden, wo genau die Probleme liegen.

Wo verläuft die Grenze zwischen Ausbeutung und einem legitimen Arbeitsverhältnis zum beiderseitigen Nutzen?
Man darf nicht den Fehler machen, alle Jobs mit niedrigem Lohn, für die Menschen aus dem Ausland nach Deutschland kommen, sofort als Ausbeutung darzustellen. Auch braucht nicht jeder sofort das maximale Portfolio an Integrationsangeboten wie Sprachkurse, berufliches Training und Wertevermittlung.

Es ist eine absolut legitime Lebensentscheidung zu sagen: Ich komme für ein paar Monate nach Deutschland aufs Spargelfeld, ich möchte Geld verdienen, aber keine Kontakte knüpfen und auch kein Deutsch lernen. Aber ein Grundstandard muss für alle gelten: die Einhaltung der Höchstarbeitszeit, der Mindestlohn und der allgemein gültige Arbeitsschutz. Leider werden diese grundlegenden Prinzipien zu oft unterlaufen. Ausländische Beschäftigte werden öfter ausgebeutet als deutsche.

Warum?
Das hat mit dem Machtgefälle zu tun. Den von Ausbeutung Betroffenen fehlt es an Sprachkenntnissen, an Bildung, an sozialen Kontakten und kulturellem Kapital, um ihre Rechte geltend zu machen. Arbeitgeber nutzen das aus, und sie nutzen rechtliche Schlupflöcher.

Wir brauchen nicht nur Mediziner und Programmiererinnen, sondern auch Menschen, die Arbeiten übernehmen, für die sich sonst niemand mehr findet.

Holger Kolb

Haben Sie ein Beispiel?
Ein prominentes Beispiel ist die Fleischindustrie. Da sind ganze betriebliche Einheiten nur noch über Werkverträge organisiert worden, so dass die Beschäftigten zum Beispiel keine Betriebsräte gründen konnten. Am Ende wurden Werkverträge für diese Branche verboten – ein sehr guter Schritt. Auch generell muss man sagen, dass die Politik durchaus aktiv ist. In den vergangenen Jahren wurde zum Beispiel in Beratungsangebote investiert, um Betroffene zu stärken.

Was ließe sich noch tun, um Ausbeutung zu verhindern?
Im deutschen Arbeitsrecht gilt normalerweise: Kümmere dich um deine Rechte selbst. Es gibt keine Verbandsklagerechte, denn es soll keine Robin-Hood-Mentalität entstehen. Aber man sollte darüber nachdenken, ob in bestimmten Konstellationen die Machtasymmetrie nicht doch derart stark ist, dass ein Verbandsklagerechte nötig wird. Dann wären die Betroffenen nicht auf sich alleine gestellt.

Welche Risiken brächte das mit sich?
Es gäbe die Gefahr, in gut funktionierenden Betrieben Unfrieden reinzubringen. Verbandsklagerechte können Konflikte befeuern und künstlich verschärfen. Aus meiner Sicht würden die Vorteile aber überwiegen.

Mai 2023, Sachsen, Coswig: Eine Erntehelferin pflückt auf einem Feld Erdbeeren.

© dpa/Sebastian Kahnert

In der Debatte um Einwanderung von Arbeitskräften geht es oft um Fachkräfte, bis hin zu hoch qualifizierten Expertinnen. Ist die Einwanderung von Ungelernten genauso wichtig?
Sie wird zumindest immer wichtiger und hat in den vergangenen Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Die Politik spricht nicht so gern darüber, aber der Entwurf für das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz wird dazu führen, dass viel mehr formal Nicht-Qualifizierte als bisher für den deutschen Arbeitsmarkt angeworben werden. Das ist auch nötig. Wir brauchen nicht nur Mediziner und Programmiererinnen, sondern auch Menschen, die Arbeiten übernehmen, für die sich sonst niemand mehr findet.

Oft heißt es, deutsche Behörden bräuchten jahrelang, um ausländische Berufsabschlüsse anzuerkennen. Ist das System wirklich so träge?
Da muss man vorsichtig sein. Die Anerkennung einer ausländischen Qualifikation als gleichwertig zu deutschen Standards ist ein langwieriges Verfahren, das Zeit und Nerven kostet. Aber das Resultat dieses Prozesses ist ein Zertifikat mit einem sehr hohen Wert auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Wenn Sie bei so einem Prüfverfahren einfach alles durchwinken, verliert das Ergebnis seinen Wert.

Das heißt, in diesem Bereich kann alles bleiben, wie es ist?
Das nun auch nicht. Die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse sollte stärker vereinheitlicht und im Übrigen auch finanziell gefördert werden. Für die Migrantinnen und Migranten entstehen oft Kosten im vierstelligen Bereich. Das zahlt nicht jeder aus der Portokasse.

Ist die Bundesregierung mit ihrem geplanten Gesetz für mehr Fachkräfteeinwanderung auf dem richtigen Weg?
Die Politik muss aufpassen, dass die neuen Möglichkeiten nicht wieder missbraucht werden, um Menschen auszubeuten. Aber insgesamt führt an einer deutlichen Ausweitung der Einwanderung kein Weg vorbei. Die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt sind dramatisch, es braucht mehr Arbeitswillige im Land. Also ist es an der Zeit, neue Wege zu beschreiten.

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