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Der deutsch-französische Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler Alfred Grosser spricht am 3. Juli 2014 im Bundestag in Berlin.

© dpa/Maurizio Gambarini

Alfred Grosser ist tot: Ein großer Mittler zwischen Deutschland und Frankreich

Der deutsch-französische Publizist und Politologe Alfred Grosser ist im Alter von 99 Jahren gestorben. Der zuweilen scharfzüngige Denker hat Generationen auf beiden Seiten des Rheins geprägt.

Bis zuletzt ist er ein wacher Geist geblieben. Er hat sich eingemischt, bisweilen polemisch, aber immer engagiert im Sinne Europas. In einem Interview sagte Alfred Grosser im Juni 2017, dass Donald Trump „weitgehend ein Psychopath“ sei. Den damaligen US-Präsidenten, der möglicherweise bald wieder ins Weiße Haus einzieht, sah Grosser als Katalysator für die Einigung Europas.

Europa – das war das große Lebensthema Grossers, der die Gabe besaß, den Deutschen Frankreich zu erklären und den Franzosen Deutschland. In Frankreich, das seine Heimat wurde, wirkte er bis ins hohe Alter als eifriger Chronist. Als 2016 ein islamistischer Terroranschlag in Nizza die Nation erschütterte, schrieb er in einem Essay im Tagesspiegel: „Dieses Frankreich ist leider heute in einer Lage, die ich als Patriot nur beklagen kann.“ Den Präsidenten Emmanuel Macron, der 2017 ins Amt kam, unterstützte er. Die Reformen des Liberalen Macron begleitete er wohlwollend.

Was aber Grosser über andere Beobachter des deutsch-französischen Verhältnisses herausragen lässt, ist sein unermüdlicher Einsatz für die Völkerverständigung – keine Selbstverständlichkeit in Zeiten, in denen hierzulande die in Teilen rechtsextreme AfD in Umfragen den zweiten Platz belegt und der rechtspopulistische „Rassemblement National“ in Frankreich sogar vorn liegt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnerte am Donnerstag an die Rede, die Grosser 2014 zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges im Bundestag gehalten hatte. Damals sprach Grosser davon, dass die Bundesrepublik „ein Sonderfall in Europa“ sei. Die Bundesrepublik sei nämlich – anders als beispielsweise Frankreich – nicht auf dem Prinzip der Nation aufgebaut worden, „sondern aufgrund einer politischen Ethik, die der doppelten Ablehnung von Hitler in der Vergangenheit und von Stalin in der Nachbarschaft“.

Der deutsch-französische Publizist Grosser stammt selbst noch aus einer Ära, die von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer geprägt wurde. Als der französische Präsident und der deutsche Kanzler 1963 den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag unterzeichneten, da war Grosser bereits Inhaber eines Lehrstuhls an der Pariser Universität „Sciences Po“.

Legendär waren dort in den Achtzigerjahren seine wöchentlichen Vorlesungen, in denen er eine Presseschau mit seinen Kommentaren zur jeweiligen Tagesaktualität verband. Grosser sprach meist vor einem vollen Amphitheater, obwohl der Besuch der Veranstaltung nicht verpflichtend war.

Flucht vor den Nazis nach Frankreich

Zu diesem Zeitpunkt war der im Jahr 1925 in Frankfurt am Main geborene Grosser bereits zu einem der wichtigsten Protagonisten der deutsch-französischen Verständigung geworden. Das war keine Selbstverständlichkeit: Als Achtjähriger musste er nach der Machtergreifung der Nazis mit seiner Familie nach Frankreich emigrieren.

Dort besuchte er zunächst eine Grundschule bei Paris. Dass Grosser, der Sohn eines jüdischen Kinderarztes, zum Franzosen wurde, hängt vor allem mit dem Schulkonzept der „école republicaine“ zusammen, welches auch Zuwanderer gezielt einschließt. 1937 wurde er eingebürgert, nach dem Studium der Politikwissenschaft und Germanistik lehrte er als Professor am „Sciences Po“, wo er bis 1992 Forschungsdirektor war.

Alfred Grosser und die damalige Kanzlerin Angela Merkel im Jahr 2014 in Berlin.
Alfred Grosser und die damalige Kanzlerin Angela Merkel im Jahr 2014 in Berlin.

© Imago/Photothek/Michael Gottschalk

Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit sah sich Grosser stets als Mittler – nicht nur zwischen Deutschen und Franzosen, was ihm 1975 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels einbrachte, sondern auch zwischen Israelis und Palästinensern. Seine scharfe Israel-Kritik löste indes mehrfach Kontroversen aus.

Noch vor wenigen Tagen würdigte ihn der deutsche Botschafter in Paris, Stephan Steinlein, zu seinem 99. Geburtstag auf der Plattform X. Steinlein rief in Erinnerung, dass die beeindruckende Arbeit Grossers mehrere Generationen auf beiden Seiten des Rheins geprägt habe. Sein Wirken im Sinne der deutsch-französischen Freundschaft sei „ein Vorbild für uns alle“, schrieb Steinlein. Alfred Grosser ist am Mittwoch in Paris gestorben.

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