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Der russische Präsident Wladimir Putin.

© Reuters/Sputnik/Sergey Guneev

Zeitenwende geht nicht rückwärts: Der Sturz Putins allein würde den Vertrauensverlust nicht aufwiegen

Gibt es in Europa Frieden oder einen großen Krieg? Unsere Festtagsroutine ist gestört. Fakt ist: Die deutsche Friedenssehnsucht hat viele blind gemacht für neue Gefahren.

Ein Essay von Gerd Appenzeller

Seit 2000 Jahren feiern die Christen an Weihnachten eine Zeitenwende. Aber sie haben das nie so empfunden. Denn die Geburt Christi als der große Wendepunkt im Menschenschicksal – denn Gott kam im christlichen Verständnis ja in Gestalt seines Sohnes zu uns – ist längst Geschichte. Glaubensgeschichte.

Die Gottesdienste am 24. Dezember waren jedenfalls immer Stunden der Hoffnung, der freudigen Begegnung. Sie waren aufregend, vor allem für die Kinder, aber nicht nur. Eines waren sie jedenfalls nie, jedenfalls nicht in den vergangenen Jahrzehnten: Stunden des Bangens. Das ist jetzt anders.

Die Fragen, die wir uns am 24. Dezember 2022 stellen, und die auch von den Pfarrerinnen und Pfarrern ausgesprochen werden, lauten vielleicht so: Wird es in Europa, in ganz Europa, Frieden geben? Müssen wir Angst vor einem großen Krieg haben? Können wir unsere Wohnungen noch heizen? Werden wir im Februar oder März oder April unsere Öl- und Gas- und Stromrechnungen zahlen können?

Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf.

Olaf Scholz, in seiner Rede im Bundestag am 27. Februar

Und noch konkreter: Was ist, wenn Putin als nächstes Land das unsere angreift? Können wir ihn gnädig stimmen, welche Geste der politischen Unterwerfung würde wohl seine Aggressionen stoppen? Unsere Weihnachtsroutine ist gestört. Es geschah am 24. Februar, mitten in Europa. Denn seitdem herrscht wieder Krieg. 30 Jahre Frieden, nach dem Fall der Mauern, sind vorbei.

Bewusst wurde uns das in Deutschland drei Tage später durch die klare und schnörkellose Rede eines Politikers, der ein schlechter Rhetoriker und bar erkennbarer Leidenschaften ist. Aber Olaf Scholz, der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, wurde am 27. Februar im Bundestag vielleicht zum ersten Mal auch öffentlich erkennbar jener Rolle gerecht, von der er behauptet hatte, sie gerne ausfüllen zu wollen.

Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie. Das war jener Satz, der ihm selbst so offensichtlich gefallen hatte. Drei Tage nach dem russischen, nein, nach dem Putinschen Überfall auf die Ukraine riss der Nachfolger der Russlandversteherin Angela Merkel die Deutschen mit wenigen Sätzen aus allen Illusionen.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gab am 27. Februar anlässlich des von Russland begonnenen Kriegs in der Ukraine eine Regierungserklärung ab.

© picture alliance/photothek/Janine Schmitz

Der SPD-Politiker sagte: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinentes. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen. Aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückerregime infrage … wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf.“

Was der Kanzler hier beschreibt, ist die übergeordnete Sicht des demokratischen Politikers. Da unter friedliebenden Nationen der regelbasierte Umgang miteinander die Geschäftsgrundlage ist, kann die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, nur eine Antwort herausfordern. Das Nein hat aber Folgen bis in den Alltag der Menschen hinein. Denn mit Putins Überfall auf die Ukraine ist zwei Jahrzehnten deutscher Russlandpolitik schlagartig der Boden entzogen worden.

Angela Merkel ist bis heute nicht völlig einsichtig

Angela Merkel hat es bis heute nicht voll realisiert, Scholz lange gebraucht, um auf dem mühseligen Weg der Erkenntnis weiter zu kommen, aber: Man kann nicht ungerührt fortlaufend, als sei nichts geschehen, Handel mit einem Land treiben, das sich, nicht etwa aus Versehen, sondern ganz bewusst und gezielt, als Feind der demokratischen Nationen Europas offenbart hat.

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begrüßt am 1. Juni 2012 den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Berlin.

© picture alliance/Sven Simon

Mit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar hat Putin, acht Jahre nach der Unterwanderung der Machtverhältnisse auf der ebenfalls zur Ukraine gehörenden Krim, die aus seiner Sicht wohl zwingend gebotene realpolitische Konsequenz aus einer noch älteren Analyse der Machtverhältnisse gezogen: Am 25. April 2005 hatte er in einer Rede den Zerfall der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts genannt.

Das lässt für die baltischen Staaten und andere heute wieder selbständige Nationen der einstigen Sowjetunion das Schlimmste befürchten. Denn für diese Nationen war der Zerfall der Sowjetunion die Stunde ihrer Wiedergeburt als eigenständige Staatswesen.

Friedenssehnsucht hat viele blind gemacht für neue Gefahren

Olaf Scholz hat seine politischen Wurzeln im pazifistischen Mutterboden der SPD. Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich steht ihm nahe, und er kennt die Friedenssehnsucht vieler Deutscher, die sie auch immer wieder blind gemacht hat gegenüber den realen militärischen Bedrohungen und sie die falschen Folgerungen schließen ließ: Eher weniger Geld für die Bundeswehr, bloß keine bewaffneten Drohnen, nichts tun für das Erreichen des Zwei-Prozent-Haushaltszieles für die Bundeswehr.

Ein russischer Soldat steht Ende Juli in der Ukraine nahe eines Armeefahrzeugs mit dem Z-Symbol.

© Imago Images/Itar Tass/Sergei Bobylev

Das alles ist Scholz bis heute nicht fremd und erklärt auch immer wieder sein attentistisches Reagieren auf die Forderung nach mehr Waffenhilfe für die Ukraine. Wo gab es das schon einmal, dass in aktuellen Meinungsumfragen stabil eine Mehrheit der Bevölkerung mehr Waffen für die Ukraine fordert und unterstützt, während die Regierung zögert?

Und Scholz weiß auch, dass gerade im Osten Deutschlands jene Strömung stark ist, die im Interesse der Beschäftigung von Raffinerien und der Auslastung von Arbeitsplätzen am liebsten den Handel mit Russland weiter laufen lassen würde, als gebe es diesen Krieg in der Ukraine nicht.

Die Zeitenwende hat gerade erst begonnen

Sein Satz aus der Bundestagsrede „Ich weiß genau, welche Fragen sich die Bürgerinnen und Bürger abends am Küchentisch stellen“, zielt genau auf die Herzen einer sozialdemokratischen Kernwählerschicht. Da will man nicht, nach den grundstürzenden Entwicklungen der Jahre 1990 und folgende, eine zweite Zeitenwende, aber nun rückwärts, ertragen müssen.

Hier gibt es wenig Verständnis und Einsicht für eine dennoch unausweichliche, fundamentale Schlussfolgerung aus dem Geschehen seit dem 24. Februar 2022. Das bedeutet im Umkehrschluss: Mit dem Sturz oder Abgang Putins allein ließe sich die Vertrauensverlust in der internationalen Politik nicht aufwiegen.

Ohne eine Systemänderung und Demokratisierung Russlands kann es keine normalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland mehr geben.  Das ist der wirkliche Kern der Zeitenwende, von der Scholz am 27. Februar sprach.

Es gibt kein Zurück zum Status quo ante, keine Wiederaufnahme der internationalen Tagesgeschäfte, wenn Russland seine Truppen abzieht. Zeitenwende rückwärts – das funktioniert nicht. Die Wahrheit ist umfassender: Die Zeitenwende hat gerade erst begonnen. An ihrem Ende könnte eine neue Friedensordnung für Europa stehen, geschrieben und unterzeichnet von allen demokratischen Staaten des Kontinentes. Nur von diesen.

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