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Erste Rohlinge der Berlinale-Bären sind in der Bildgießerei Hermann Noack zu sehen.

© dpa/Jens Kalaene/Bearbeitung Tagesspiegel

Schlussspurt bei der Berlinale: Wer gewinnt den Goldenen Bären?

Am Sonnabend werden die begehrten Preise des Filmfestivals vergeben. Drei Experten wagen einen Ausblick.

Von
  • Stefan Grissemann
  • Katja Nicodemus
  • Andreas Busche

Der Berlinale-Wettbewerb 2024 war voll von unschlüssigen Filmen mit halbfertigen Ideen. Von diesen zwanzig Beiträgen ein Urteil über den gegenwärtigen Zustand des Weltkinos herzuleiten, ist nahezu unmöglich. Der scheidende Künstlerische Leiter Carlo Chatrian hatte fünf Jahre Zeit, um sein Versprechen eines avancierten Kinos zu präsentieren. Gelungen ist es ihm mit diesem Wettbewerb auch nicht.

Trotzdem werden am Samstag nach der Entscheidung der Jury unter der Leitung von Lupita Nyong’o die diesjährigen Bärengewinner ausgezeichnet. Drei Kinoexperten habe eine Prognose gewagt. Alle Teil der Serie „3 auf 1“ finden Sie hier.


Mit Laserschwert in der französischen Provinz

Mein Favorit: ein Film, der Blockbuster- und Autorenkino, Genre- und Milieufilm an der nordfranzösischen Küste kollidieren lässt und frohgemut ins All schießt. Im französischen Science-Fiction-Film „L’Empire“ bekämpfen sich zwei außerirdische Mächte auf der Erde und schlüpfen dafür in die Körper junger Menschen in einem Fischerdorf.

Die Jugend trägt Jeans, Tanktop und Bikini, schwingt unbeholfen Laserschwerter und entreißt sich gegenseitig ein Messias-Baby. Auf der bösen Seite schieben sich dämonische Ritter auf schwerfälligen Ackergäulen durchs Bild, auf der guten hat eine charismatische Kämpferin das Sagen.

Bruno Dumonts Wettbewerbsfilm dekonstruiert das Mythengeschwafel der Marvel-, Superhelden- und Star Wars- Fillme und hebt das französische Dorfproletariat im Gegenzug in den Stand der Sternenkrieger. Allein die Bilder der kathedralenhaften Raumschiffe verdienen den Goldenen Bären.


Kino-Delirium oder Mut zur Dissidenz

Der Wettbewerb bot viel x-fach Erlebtes, formal Hüftlahmes, „gut Gemachtes“. Aber auch aus der Abteilung Zwangsoriginalität und Fremdscham („A Different Man“) führten alle Wege bloß ins Leere. Ein paar anmutige Etüden, forumesk und panoramahaft, fast deplatziert im Bärenrennen, erfreuten Herz & Hirn: die Beutekunst-Doku „Dahomey“ oder die Lockdown-Komödie „L’hors du temps“ von Olivier Assayas.

Viel zu selten blitzte das alte Kino-Delirium auf, die Totalverweigerung des guten Geschmacks: in Bruno Dumonts genüsslich vertrottelter Sci-Fi-Verirrung „L’Empire“ – eine perfekte Allegorie auf das Leben in der globalen Idiokratie – und, ungleich ernster, in der Hyperdepression des Kindermörderinnentrauerspiels „Des Teufels Bad“.

Mit Preischancen kann wohl die iranische Seniorenromanze „My Favorite Cake“ rechnen. Mut zur Dissidenz muss siegen, Lily Farhadpour als Heldin ist sehr sympathisch. Aber Drehbuch, Regie? Schwamm drüber. Das Kammerspiel „La cocina“, das fast ausschließlich in einer New Yorker Restaurantküche spielt, wäre ein Konsenskandidat. Und Matthias Glasners „Sterben“? Bitte nicht.


Nilpferd gegen Durststrecken

Die Durststrecken in diesem Wettbewerb waren lang, darum ging man zur geistigen Erfrischung nur zu gern auf Tauchstation mit einem ostafrikanischen Dickhäuter, den es auf Umwegen aus seinem natürlichen Habitat in den Privatzoo des kolumbianischen Drogenbarons Pablo Escobar verschlagen hat.

Nach seiner unfreiwilligen Befreiung dümpelt das Nilpferd Pepe, von seiner Herde verstoßen, in den Seitenarmen des Rio Magdalena herum und sinniert (mehrsprachig) über sein Schicksal; während er unter den Einheimischen den mythischen Ruf des Seeungeheuers „Nessie“ erlangt.

Der dominikanische Regisseur Nelson Carlos De Los Santos Arias wagt sich weit aus dem gesicherten Mittelfeld des Arthousekinos in neue erzählerische Dimensionen vor – spielerisch, komödiantisch, absurd, philosophisch und immer auch politisch. Damit ist „Pepe“ um einiges origineller und vielschichtiger als der ganze bemühte Rest des Wettbewerbs. Der Goldene Bär wäre ein angemessenes Abschiedsgeschenk für den scheidenden Künstlerischen Leiter Carlo Chatrian.

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