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Handschlag mit Erdogan: Kanzler Scholz.

© AFP/Odd Andersen

Trotz abgespeckten Programms : Erdogan hätte diese Bühne nicht verdient gehabt

In der aktuellen Lage braucht Deutschland Erdogan. Dass das so ist, liegt auch in Deutschlands Verantwortung und zeigt: Der Weg zum außenpolitischen Erwachsenwerden ist weit.

Ein Kommentar von Christopher Ziedler

Ein diplomatischer Totalschaden ist knapp vermieden worden beim Kurzbesuch von Recep Tayyip Erdogan in Deutschland. Kanzler Olaf Scholz wird es sicher als Erfolg verkaufen wollen, dass der türkische Präsident in seinem Beisein am Freitagabend nicht all das wiederholt hat, was im Vorfeld der Visite größte Befürchtungen geweckt hatte.

Ja, es hätte noch schlimmer kommen können. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist auch viel Energie investiert worden, damit Erdogan Israel nicht erneut als „Terrorstaat“ bezeichnet und die Hamas-Mörderbande als eine Gruppe selbstloser „Freiheitskämpfer“. Der Holocaust wurde nicht geleugnet in der Stadt, von der er ausging. Das Existenzrecht des Landes, das den Jüdinnen und Juden Schutz bieten sollte, die ihn überlebten, stellte Erdogan ebenfalls nicht infrage.

Er bekannte sich aber auch auf Nachfrage nicht ausdrücklich dazu – und das als Staatschef der Türkei, die Israel 1949 als erstes muslimisch geprägtes Land anerkannte. Kein Wort des Mitleids mit den Opfern des Massakers vom 7. Oktober, das nicht am Anfang der neuen Entwicklung in Nahost stehe, sondern in Erdogans Welt eher eine zwangsläufige Folge der israelischen Politik sei. Seine Empörung bezog sich allein auf die zivilen Opfer im Gazastreifen.

Muss man sich das gefallen lassen?

Überhaupt hat er sich scheinbar genüsslich nah an das herangetastet, was er nicht sagen sollte: Er setzte beispielsweise in Israel gefangene Hamas-Terroristen mit den von ihnen in den Gazastreifen verschleppten Geiseln gleich.

Für die Widerworte seines deutschen Gastgebers hatte Erdogans auch eine eher mitleidige Erklärung parat: Mit der historischen Bürde des Holocaust im Nacken sehe man in Berlin weniger klar als in Ankara. Das Gefasel vom deutschen „Schuldkult“, das Rechtsextreme hierzulande gern im Munde führen, kam so zumindest indirekt im Kanzleramt an.

Muss man sich das gefallen lassen? Nein. Auch ein rhetorisch vermeintlich zurückhaltender Erdogan bleibt Zumutung genug und hätte selbst das maximal abgespeckte Besuchsprogramm nicht verdient.

Ernste Mienen: Frank-Walter Steinmeier und Recep Tayyip Erdogan.
Ernste Mienen: Frank-Walter Steinmeier und Recep Tayyip Erdogan.

© Reuters/Fabrizio Bensch

Er fand dennoch statt, weil Deutschland in der aktuellen Lage auf den starken Mann vom Bosporus angewiesen ist – als Türsteher zur Eindämmung der irregulären Migration, als Gesprächskanal nach Moskau, als potenzieller Vermittler in Nahost oder auch nur als Präsident, der seine Anhänger in der Bundesrepublik nicht aufwiegelt.

So ist weniger das Problem, notgedrungen mit jemandem im Gespräch zu bleiben, der über Erpressungspotenzial verfügt. Bestimmte Abhängigkeiten lassen sich allein schon wegen der geografischen Lage auch gar nicht ganz verhindern. Viel besorgniserregender ist aber, wie groß Deutschland, die Europäische Union, aber auch die Nato dieses Erpressungspotenzial haben werden lassen.

So war schon beim Abschluss des EU-Flüchtlingsabkommens mit Erdogan 2016 klar, dass es unnötig gewesen wäre, wenn sich die Europäer selbst auf einen robusten Grenzschutz gepaart mit einer solidarischen Verteilung von Schutzsuchenden hätten einigen können. Das ist auch nach sieben Jahren und dem vermeintlichen „Durchbruch“ hin zu einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem bestenfalls in Ansätzen der Fall.

Politisch erwachsen ist Deutschland noch nicht

Erdogans glaubwürdige Drohkulisse ist auch Ergebnis einer schlechten Integrationspolitik in Deutschland. Wie kann es sonst sein, dass viele türkischstämmige Menschen sich mehr von ihm vertreten fühlen als von dem Staat, in dem sie teils seit Jahrzehnten leben?

Mit der Nato spielt Erdogan ebenfalls nach Belieben, wie Schwedens immer noch nicht erfolgter Beitritt zeigt. Die Allianz, die gar nicht mit einem Rauswurf drohen kann, schafft es nicht einmal, den unsicheren Kantonisten in den eigenen Reihen als solchen zu benennen. Stattdessen wird, wie auch von Scholz, die türkische Sonderrolle im Bündnis schöngeredet, weil mit ihr die Vermittlung des Getreideabkommens zwischen Moskau und Kiew möglich war.

Zum politischen Erwachsenwerden, wie das im Geist der „Zeitenwende“ immer gefordert wird, gehört eben nicht nur, vom hohen moralischen Ross herunterzusteigen und auch mit unliebsamen Zeitgenossen Politik zu machen. Mindestens ebenso wichtig ist, ihnen auch Grenzen setzen zu können. Das geht aber nur mit „strategischer Souveränität“, von der in der Europäischen Union zwar viel die Rede ist, für die jedoch wenig getan wird. Erdogan nutzt das geschickt aus.

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