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Warum so spät, Herr Scholz?

© dpa/Andreas Arnold

Asylkompromiss der EU: Der Streit um Migration zeigt das wahre „Deutschlandtempo“

Lange hat Berlin eine europäische Lösung der Migrationskrise verhindert – zum Ärger der EU-Partner. Und zum Schaden deutscher Kommunen, die an der Belastungsgrenze sind.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

In Brüssel kursiert ein Spott über die Deutschen in drängenden europäischen Fragen: „the German vote“. Deutschland enthält sich, weil die beteiligten Ministerien sich nicht einigen können. Denn sie werden von unterschiedlichen Parteien der Koalition geführt. Früher Union und SPD in der GroKo, heute SPD, Grüne und FDP in der Ampel.

Sollen Umweltbelange oder Wirtschaftsinteressen bei Emissions- und Abgaswerten den Vorrang haben? Oder, im aktuellen Streit um die Asylreform, innere Sicherheit oder humanitäre Überlegungen?

Wenn aber der EU-Staat mit der größten Bevölkerung und stärksten Wirtschaft sich nicht entscheiden kann, ist oft die gemeinsame Politik blockiert. Dann muss die EU warten. Das ist die dunkle Kehrseite deutscher Koalitionen.  

In der Migrationspolitik hat Kanzler Olaf Scholz jetzt ein Machtwort gesprochen: Berlin beendet die Blockade der Krisenverordnung, die ein zentraler Teil der EU-Asylreform ist. Er stellt sich hinter die SPD-Innenministerin Nancy Faeser und gegen die grüne Außenministerin Annalena Baerbock. Gewiss hat er den Grünen durch andere Zugeständnisse eine Brücke gebaut.

Zweierlei Deutschlandtempo

Doch warum so spät? Aus dem Brüsseler Spott ist längst ein Drama geworden. Viele Partner verfolgen die deutsche Entscheidungsscheu mit Ärger und Verständnislosigkeit. Wer hat den größten Schaden, wenn sich die Migrationskrise durch Verzögerung von Lösungsansätzen weiter zuspitzt? Die deutschen Kommunen, würden die meisten EU-Partner antworten. Sie sind längst wieder an den Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit.

Scholz lobt gerne das „Deutschlandtempo“ – und meint schnelle Entscheidungen. Der Streit um Asyl und Migration zeigt das wahre Deutschlandtempo. Scholz weicht Konflikten aus, solange es irgend geht. Er überlässt zentrale Themen dem Framing der Zuspitzer rechts wie links, statt sie frühzeitig mit mehrheitsfähigen Vorschlägen zu besetzen.

Moralischer Bekenntnisdruck: AfD oder Grüne

Das erschwert eine pragmatische Sachdebatte. Die AfD behauptet, man könne Migration ganz einfach stoppen, wenn man nur wolle. Viele Grüne tun so, als sei sie wie eine Naturgewalt, die man nicht beeinflussen könne. Argumente zählen kaum noch, es geht um moralischen Bekenntnisdruck: Bist du auf der Seite der Bösen oder der Guten?

Auch in Europa tobt der Streit. Auch dort bestimmen die Extremen den Diskurs, wenn die Nachdenklichen sich nicht Gehör verschaffen, mehrheitsfähige Kompromisse schmieden und durchsetzen. Deshalb ist eine klare deutsche Haltung wichtig.

Wie kann man die EU-Außengrenze besser schützen? Soll man die Asylverfahren an die Außengrenze verlegen? Das würde eines der heutigen Hauptprobleme – wie bringt man die Abgelehnten zur Ausreise – stark reduzieren. Da ist sorgfältig abzuwägen, was verantwortbar ist und was nicht.

Auch andere Streitpunkte der deutschen Debatte haben eine Kehrseite: die Obergrenze und die Umwandlung des individuellen Asylrechts in eine institutionelle Garantie. Einen Asylanspruch in Deutschland haben heute nur wenige. Menschen, die es hierher schaffen, haben mehrere sichere Staaten durchquert, wo sie um Asyl bitten konnten.

Wenn die meisten Migranten freilich bereits an der EU-Außengrenze abgewiesen und auf die für sie sicheren Länder auf ihrem Weg verwiesen würden, droht eine Destabilisierung dieser oft fragilen Staaten durch Überlastung. Die EU müsste sich verpflichten, ihnen einen Teil abzunehmen. Für Deutschland ist eine Obergrenze von bis zu 200.000 Verfolgten pro Jahr im Gespräch.

Der Ärger über Deutschland hat einen weiteren Grund: die Neigung vieler Deutscher zur Überheblichkeit. Ob Aufnahmelager in Griechenland, Asylverfahren in Italien, mehr Sachleistungen statt Geld in Frankreich, gar nicht zu reden von den Verhältnissen in sicheren Drittstaaten wie Tunesien oder Moldawien: Kaum etwas genügt den deutschen Ansprüchen. Begründete Verdachtsfälle des Rechtsbruchs, etwa durch Pushbacks, müssen natürlich untersucht werden.

Doch der Versuch, in Europa deutsche Vorstellungen durchzusetzen, kann eine Gegenreaktion provozieren: Sollen die Deutschen doch sehen, wie sie allein mit der Massenmigration klarkommen. Das hat 2015 nicht geklappt. 2023 zeigt sich wieder: Es geht nur gemeinsam. Deutschland muss seinen Teil für eine europäische Lösung beitragen.

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