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In ihrem privaten Dschungel. Neele Stemkowitz spenden ihre Pflanzen Freude und Trost.

© privat

Vom alten Ägypten zum „Urban Jungle“: Warum wir Menschen Zimmerpflanzen so lieben

Natur in den eigenen vier Wänden, Sehnsucht nach Exotischem – das Zimmergrün erfreut sich eines Hypes. Doch die Faszination an ihm ist jahrhundertealt.

Palmen, Ranken, eine riesige Monstera deliciosa und andere grüne Blattgewächse stehen in Töpfen und hängen in Kübeln im Wohnzimmer von Neele Stemkowitz in Osnabrück. Sie selbst sitzt versonnen schauend in gelbem Pullover inmitten ihrer Pflanzen. Die Bildunterschrift ihres Facebookfotos: „Familienfoto“, dahinter ein Herz-Smiley. Schaut man auf Neele Stemkowitzs Instagram-Account, ist die dominante Farbe grün. Über 100 Pflanzen hat die 24-jährige Studentin, einige davon sind wie Familienmitglieder.

„Wenn zum Beispiel die große Monstera sterben würde, müsste ich wohl weinen“, sagt sie über das 1,30 Meter hohe Gewächs. Auch an einem Ableger, den ihr ihre Großtante geschenkt hat, hängt sie sehr. Ihr Interesse für Pflanzen kam mit dem Studium auf, doch zunächst ging ihr sogar der Efeu ein. Inzwischen investiert sie laufend in selbstgemischte Erde, Töpfe, Dünger und neue Mitbewohner.

Pflanzen sind gerade in depressiven Phasen ein gutes Hobby

Stemkowitz ist mit ihrem Instagram-Account „thegirlwithsuninhersoul“ Teil des aktuellen Hypes um Zimmerpflanzen, genauer gesagt: um tropische Grünpflanzen. In Berlin wirbt der exklusive Pflanzenversand Bergamotte mit „Pop-up-Dschungeln“, bei The Greens gibt es anregenden Kaffee und beruhigende Begrünung. Die Faszination für sprießende Blätter auf der Fensterbank ist aber jahrhundertealt. Selbstwirksamkeitstherapie, Verbindung zur Natur, Sammelobjekt – all das war und ist die Zimmerpflanze für den Menschen.

„Wenn ich mal einen schlechten Tag habe, ist es einfach schön, ein neues Blatt zu sehen“, sagt Stemkowitz, die aktuell unter einer depressiven Episode leidet. „Die Pflanzen sind gerade in depressiven Phasen ein wunderschönes Hobby, weil man etwas hat, das man von zu Hause aus machen kann.“ Blätter putzen und befeuchten, Pflanzen umtopfen, Erde an den Händen spüren, all das ist Meditation und natürliches Beruhigungsmittel.

Früher ein Privileg, heute ein Massengeschäft

Schon im 19. Jahrhundert unternahmen Literaten Zimmerreisen durch die Urwälder ihrer pflanzenverstellten Interieurs. Der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler hat den Landschaften und Kontinenten aus Ranken, Blättern und Blüten in seinem Buch „Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Reisen in und um das Zimmer herum“ ein ganzes Kapitel gewidmet. An zwei französischen Zimmerreiseberichten zeigt er, wie das Grün im eigenen Heim der Selbsterfahrung diente: „Die Pflanzen aufmerksam betrachtend, habe ich etliche Geheimnisse aufgespürt, aufgedeckt, die andere nicht bemerkt haben oder nicht wahrnehmen wollten“, zitiert Stiegler aus George Astons „L'ami Kips. Voyage d'un botaniste dans sa maison“ (1879). Das Philosophieren über die große Welt im Kleinen war freilich den Wohlhabenden, die genug Muße für derlei Träumerei hatten, vorbehalten.

Was früher ein Privileg reicher Bürger war, ist heute ein Massengeschäft. 4,1 Milliarden Euro wurden 2018 in Deutschland allein mit Topfpflanzen umgesetzt, das sind 49 Euro pro Person. Der Topf mit Blättern und Blüten auf dem Balkon oder im Wohnzimmer scheint den Menschen ein Grundbedürfnis zu sein, bei einigen wird gar ein „urban jungle“ daraus, wie der Jahresbericht des Zentralverbands Gartenbau den Trend zum vollständig begrünten Zimmer nennt. Aber warum sorgt jedes neue Blatt für kindliche Freude und die Nachlässigkeit der zum Gießen beauftragten Nachbarn für Zorn und Trauer?

Zimmerpflanzen waren einst wie teure Kunst

Pflanzen befriedigen ein wichtiges Grundbedürfnis. Sie vergewissern uns der Anwesenheit von Natur und damit von Leben. Mit der industriellen Revolution entfremdete sich der Mensch vom Landleben, rückte fort von Feldern, Wäldern und Wiesen. Arbeiter wie Industrielle bewegten sich im Alltag oft nur noch durch Fabrik und Kontorräume, über Straßen und Plätze, in Stadtwohnungen und Mietskasernen. Dadurch entstand eine neue Sehnsucht nach dem vormals so gefürchteten Natürlichen – solange es sich den Regeln der Moderne anpasste. Schrebergärten sollten in ihrer parzellierten, säuberlich angeordneten Form den Fabrikarbeitern Erholung und Nahrung bieten. Exotische Topfpflanzen aber waren ein Privileg des Bürgertums.

Wer mehr zur Bedeutung der Zimmerpflanzen für den Menschen wissen will, sollte sich ins Botanische Museum aufmachen. Die hohen Decken und grauen Fußböden erinnern an ein Krankenhaus der wilhelminischen Zeit. Hinter einer der Türen auf dem halligen Flur sitzt Patricia Rahemipour, Kuratorin der Ausstellung „Geliebt, gegossen, vergessen. Phänomen Zimmerpflanze“, die Ende Juni endete.

„Zimmerpflanzen waren auch Repräsentationsobjekte“, sagt sie. „Sie zeigten, dass der Besitzer vermögend war und sich das Personal oder eben die Ehefrau leisten konnte, die sich um die Pflanze kümmerte.“ Dazu kam das kulturelle Kapital, das nötig war, um Zimmerpflanzen zu erhalten. Stecken heutzutage kurze Pflegeanleitungen in der Erde der Baumarktpflanze, musste man zu Zeiten des Biedermeier noch den Almanach wälzen und erst einmal verstehen. Die Pflege exotischer Pflanzen war nicht so gründlich erforscht, das Wissen darum den Reichen und Gelehrten vorbehalten. Für den Bürger der Kaiserzeit waren Pflanzen Preziosen, ähnlich teurer Kunst oder gar Edelsteinen.

Verzüchtet und überlebensunfähig

Die Pflanzenwelt war dabei untrennbar mit dem weiblichen Geschlecht verknüpft. Mit Frauen und der Natur assoziierte man vor der industriellen Revolution Tod und Leben zugleich, die gebärende Kraft, die es zu zähmen galt. Mit der Moderne galten diese Urkräfte in kontrollierte Bahnen gelenkt. Bürgerliche Frauen wurden dem Heim zugeschrieben, ihr Auftreten sollte ebenso kultiviert und gezähmt sein wie die Topfpflanzen. Mit der zunehmenden Unwirtlichkeit der Städte durch industrielle Bauten und Mietskasernen wuchs die Sehnsucht nach dem trauten Heim und der sanften Hausfrau - der Jugendstil mit seinen verträumten Frauen und den Blätterranken bringt diese Sehnsucht zum Ausdruck.

Neele Stemkowitz hat zwar nichts von einer braven Hausfrau, die Sehnsucht nach der Natur aber kennt auch sie. „Wenn ich an schlechten Tagen eigentlich in den Wald gehen und Kraft tanken müsste, es aber nicht schaffe, dann habe ich wenigsten ein Stück Wald bei mir daheim“, sagt sie. Die Motive für die Liebe zur Topfpflanze sind damals wie heute die gleichen: „Vor allem für Menschen, die naturfern aufgewachsen sind, sind Pflanzen oft der letzte Bezugspunkt zur Natur“, sagt Rahemipour. Ebenso wie sich der Mensch zu Wasserläufen, Seen und dem Meer hingezogen fühlt, geben ihm Pflanzen ein Gefühl des inneren Friedens. Denn: Pflanzen können ohne den Menschen, Menschen aber nicht ohne Pflanzen. „Bei den Zimmerpflanzen ist das jedoch etwas anders“, sagt Rahemipour. Auf dem Schrank in ihrem Büro steht ein bräunlich angetrockneter Farn, der während ihres Urlaubs nicht genügend Sprühnebel abbekommen hat. Zimmerpflanzen sind hybride Wesen. Sie gaukeln Natur und Wildwuchs, Lebenskraft und Erdverbundenheit vor, sind aber eigentlich die Möpse der Pflanzenwelt - wahnsinnig verzüchtet und alleine kaum überlebensfähig.

Die antiken Wurzeln des Phänomens

Sehnsucht nach Leben, das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Kontrolle ziehen den Menschen zur Pflanze – und die Sehnsucht nach der weiten Welt. Dass Zimmerpflanzen oft auf Fensterbänken stehen, an der Schwelle zwischen drinnen und draußen, verstärkt den sehnsüchtigen Blick hinaus. Am deutlichsten kommt das auf einem Bild des dänischen Maler Martinus Rørbye zum Ausdruck. Aus einem recht dunklen Raum schaut man auf eine Hortensie, einen üppig rosa blühenden Kugelamarant und eine Agave, darüber hängt ein Vogelkäfig. Dahinter liegen im dunstigen Licht mehrere Schiffe im Hafen.

Schon die Ägypter und die Römer betrieben einigen Aufwand, um Pflanzen aus fernen Ländern in die Häuser der Oberschicht zu transportieren, schreibt Marina Heilmeyer in ihrem Essay über die antiken Wurzeln der Zimmerpflanze aus dem üppigen Katalog zu "Geliebt. Gegossen. Vergessen". Der erste dokumentierte Import von Pflanzen ist auf Wandreliefs aus der Zeit Königin Hatschepsuts (1520 - 1484 v. Chr.) zu sehen. Damals transportierten die Ägypter Myrrhe- und Weihrauchbäume vom Horn von Afrika auf dem Land- und Wasserweg nach Theben. Dort dienten sie der Oberschicht als Spender von Räucherwerk und im Fall der Myrrhewurzel als Parfum. Auch heute betreiben Pflanzensammler einen hohen Aufwand, um an ihre Wunschpflanze zu kommen: Neele Stemkowitz ließ sich eine 60 Euro teure Pflanze aus Schweden einfliegen.

In Zeiten zunehmender Urbanisierung erfüllten Pflanzen auch ganz pragmatische Zwecke: In den Städten des antiken Griechenlands und in Rom zogen die Bewohner der immer enger werdenden Mietsgebäude Kräuter und Blumen in Töpfen. Es gab sogar juristische Auseinandersetzungen darüber, wie viele Blumentöpfe ein Mieter haben durfte, um nicht zu viel kostbares Wasser zu verschwenden. Reiche Römer, wie die Frau Kaiser Neros, Poppea Sabina, importierten Zitrusbäume von den östlichen Hängen des Himalaya - Dekadenz in Pflanzenform. Im Mittelalter waren duftende Blumen ein beliebtes Mittel gegen den Gestank von Fäkalien, Rauch und Ausdünstungen von Menschen und Tieren.

Blütezeit, Niedergang und Renaissance

Die Auswahl der Pflanzen, die als Zimmerpflanzen gezogen werden konnten, war aber begrenzt. Die meisten überlebten nur einige Monate hinter den Vorhängen aus Tierhäuten, die damals Schutz vor der Kälte boten. Denn ein entscheidendes Material fehlte: Glas. Erst hinter Glasscheiben, die ab dem 17. Jahrhundert in größeren Mengen hergestellt wurden und zunächst nur für die Oberschicht erschwinglich waren, konnten empfindliche Pflanzen das ganze Jahr ohne Schaden überstehen. Zu diesem Zweck pflanzte man sie in Töpfe und konnte sie etwa in Orangerien vor Schnee und niedrigen Temperaturen schützen. Das beförderte auch den Import von exotischen Pflanzen und führte etwa zum „Tulpenwahn“, der die Preise für Tulpenzwiebeln in absurde Höhen trieb.

All diese Entwicklungen, zusammen mit der industriellen Revolution, trugen dazu bei, dass Zimmerpflanzen ab 1800 eine Blütezeit erlebten. In der Weimarer Republik vertrugen sich die überquellenden Blumenkübel nicht mehr mit dem Ideal des minimalistischen Designs à la Bauhaus, die Zimmerpflanze kam aus der Mode. In den 50ern erfuhr sie eine Renaissance, denn die weit gereisten Pflanzen brachten Überfluss und Exotik in die Wohnzimmerfenster der genusssüchtigen Nachkriegsdeutschen. Dieser Trend gipfelte im Blumenfenster, in dem so viele dicht gedrängt gestellte Blumen wie möglich nach außen den grünen Daumen der Nachkriegshausfrau beweisen sollten. In den 80ern begann IKEA, Topfpflanzen zu vertreiben, es ging wieder etwas schlichter zu. Verstaubende Gummibäume in Amtsstuben und die niemals totzukriegende Yuccapalme aus der Studenten-WG verdrossen vielen Menschen die Lust am Gießen, Düngen und Umtopfen.

Zimmergärtnern ist zum sozialen Happening geworden

Als Verbindung zur Natur im Großstadtalltag, aber auch als Prestigeobjekt und kollektiv betriebenes Hobby ist die Zimmerpflanze heute wieder beliebt. Durch die sozialen Medien ist eine Pflanzencommunity entstanden, in der Ableger getauscht und Pflegetipps gegeben werden. Neele Stemkowitz etwa forderte ihre Follower dazu auf, ihr Fotos von unbekannten Pflanzen zu schicken. Apps wie Pl@netNet helfen dem Anfänger.

Zimmergärtnern ist zum sozialen Happening geworden. Ein bisschen Angeberei ist auch dabei – der Sukkulent auf dem Diamanthöckerchen vom Lifestyle-Blumenhändler ist ein wunderbares Mittel zur Distinktion und hat mit dem schnöden Weihnachtsstern wenig zu tun. Bei Bergamotte kostet der Gummibaum namens Jane 49,90 Euro, mit gewebten Übertopf aus der indigen mexikanischen Comunidad de San Luis Amatlán kommt der Pflanzenfreund auf 79,90 Euro plus Versandkosten. Wer es richtig exklusiv haben möchte, kann sich einen einblättrigen Ableger der seltenen Monstera Adansonii Variegata für 1558 Euro leisten.

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